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 Christian v. Ditfurth
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Aus Rezensionen
über "
Lüge eines Lebens ":

"Von Stachelmann, dem Universitätshistoriker, müssen wir jetzt Abschied nehmen. Von Stachelmann, dem historischen Detektiv, hoffentlich nicht."
Die Welt

"'Lüge eines Lebens' ist lesenswert und einfach nur ein gutes Buch."
Harburger Anzeigen und Nachrichten

"Der Leser erfährt dabei manches über das Milieu an einer deutschen Hochschule, über den Wissenschaftsbetrieb und womöglich auch ein wenig über die Verfassung des Verfassers, der selbst Historiker ist."
Thüringische Landeszeitung

"Stachelmann, sprich Ditfurth, wird immer stärker. Da liegt nun also die Messlatte für Band 5."
Nordkurier

"Ditfurth schreibt einfach sehr unterhaltsam und seinen Stachelmann muss man einfach mögen."
NDR Info

"Sehr gelungen, spannend zu lesen und über weite Strecken kaum voraussehbar."
Dresdener Neueste Nachrichten

"Historisch überzeugend"
Sächsische Zeitung

"'Lüge eines Lebens' ist ein verzweifeltes Buch. Es zeigt in seiner Verzweiflung, wie wichtig es ist, die Erinnerung an den Nationalsozialismus wach zu halten, da die gegenwärtige deutsche Geschichte - auch und gerade nach der 'Wiedervereinigung' - in hohem Maße durch Familienbiografien nach wie vor durch ihn geprägt ist."
Radio Darmstadt

Aus Rezensionen
über "
Schatten des Wahns":

"Ein sehr erhellendes Buch"
Die Welt

"So spannend wie zwingend"
Nordkurier

"Das Ganze liest sich ausgesprochen spannend und spätestens nach diesem dritten Fall fragt man sich, wann sich Produzent, Drehbuchautor und Regisseur finden, die Geschichten um den meist missvergnügten Privatermittler zu verfilmen."
Neues Deutschland

"Ein lesenswertes Buch"
NDR Info

"Der Autor zählt mit Recht zu den besten deutschen Krimiautoren, weil seine Geschichten um Stachelmann brillant und hochintelligent geschrieben sind."
Lausitzer Rundschau

"Für von Ditfurth und Stachelmann gibt es nur ein vergleichbares Duo: Henning Mankell und Kurt Wallander."
Harburger Anzeigen und Nachrichten

"Ein deutscher Krimiautor, der locker mit der internationalen Konkurrenz mithält."
Braunschweiger Zeitung

"Sehr spannend"
Kurier (Wien)

"Seine Kriminalromane sind immer spannende Zeitreisen in die jüngere deutsche Vergangenheit."
Sylter Spiegel

"Zeitgeschichte unaufdringlich und unterhaltsam vermittelt"
Die Presse (Wien)

"Spannend bis zum Schluss"
Offenbacher Post

Ditfurths Stärke ist nicht nur sein historischer Hintergrund, sondern seine persönlichen Erfahrungen."
Krimicouch.de

 

Die Kapitel 1 und 2 als Leseprobe:

 

1

Hätte jemand den Ablauf der Ereignisse auf Tonband aufgenommen und das Band später mit extrem langsamer Geschwindigkeit abspielen lassen, dann hätte er das Summen gehört, als der Strom in den Zünder schoss, und den scharfen Knall, als dieser explodierte, worauf eine dumpfe Detonation folgte, als die Stahltonne mit ihrer Mischung aus Dünger, Diesel und anderen Chemikalien im Keller hochging, dann ein Bersten, Klirren und Krachen, als der Boden des Erdgeschosses hochgeschleudert und die Fassade neben der Tür, in Höhe des Wachzimmers, nach außen gedrückt und dann zerrissen wurde. Die Fenster der Vorderseite wurden auf den Vorplatz gesprengt. Dann war es plötzlich still, Rauch quoll das Treppenhaus hoch. Nach eineinhalb Minuten knisterte die Vorderfassade, ein Riss klaffte fast senkrecht nach oben, ein zweiter zog sich von der Stelle, wo der Eingang gewesen war, nach links, hoch bis ans Dach. Ein dritter Riss verband die beiden ersten. Dann wieder Stille. Nach einer knappen Minute grollte es leise, dann immer lauter. Als Bodenbalken der Decke brachen, knallte das trockene Holz. Dann rutschte die Fassade in der Mitte des Gebäudes herunter und türmte einen Haufen, wo vorher der Haupteingang war. Schließlich stürzten die Seitenflügel in die Mitte, wo nichts mehr sie stützte. Staub, überall Staub. Der mischte sich bald mit dem schwarzem Rauch aus dem Keller. Die Schwaden zogen über die Herrenstraße und weiteten sich über der Innenstadt.
Dies geschah am 22. August 2007, um 0 Uhr 30, in der Herrenstraße 45a in Karlsruhe, Baden-Württemberg. Um 10 Uhr 11 ging bei der Deutschen Presse-Agentur in Berlin ein Bekennerschreiben ein. Absender die Gruppe Dar al-Islam, die mitteilte, der Anschlag auf den Bundesgerichtshof sei ein Vergeltungsakt für die Angriffe der Ungläubigen auf die Brüder im Irak und in Afghanistan. Sollte sich die Bundesregierung auch künftig am Krieg gegen die Rechtgläubigen beteiligen, seien weitere Anschläge unvermeidlich. Diese Vergeltungsakte seien Verteidigungsmaßnahmen und würden Deutschland immer härter treffen. "Karlsruhe ist nur eine Warnung."
Die dpa veröffentlichte das Bekennerschreiben nicht im Wortlaut, sondern um 13 Uhr 43 eine Erklärung des Bundesinnenministeriums, in der das Bekennerschreiben zitiert wurde.
Am Abend gab es in der Tagesschau nur ein Thema. Nun wurde auch gemeldet, dass drei Menschen umgekommen waren. Der Richter Dr. Winfried Kemmer, die Assessorin Karin Schütt und der Justizbeamte Arnim Hold, der im Wachzimmer des Palais des Erbgroßherzogs Friedrich Dienst gehabt hatte, wie das Hauptgebäude des BGH genannt wurde.
In der Sondersendung nach den Nachrichten ereiferten sich Experten und Politiker über die islamistische Bedrohung. Der Bundesinnenminister erklärte, er habe immer gesagt, dass Deutschland im Visier des Terrorismus sei. Es klang so etwas wie Befriedigung mit, schließlich hatte der Minister harte Kritik einstecken müssen für seine Pläne, Freiheitsrechte auszuhöhlen zugunsten einer Sicherheit, die viele für eine teure Illusion hielten. Man konnte heraushören, dass der Innenminister seine Kritiker mitverantwortlich machte für den Anschlag. Schließlich lebe man nicht in einer Diktatur, die Bürger könnten dem Staat vertrauen.
Schon an diesem Abend wurde offenkundig, der Innenminister würde seine Überwachungsmaßnahmen verschärfen, die Kritiker würden abtauchen, die Pressekommentatoren würden den Nachtwächterstaat geißeln.
Der Generalbundesanwalt verkündete die ersten Ermittlungsergebnisse. Der oder die Täter mussten den BGH schon eine Weile beobachtet haben. So fanden sie heraus, dass seit Wochen eine Klempnerfirma die sanitären Einrichtungen des Erbgroßherzoglichen Palais erneuerte. Der oder die Täter hätten einen Handwerker, der auf dem Weg zum BGH gewesen sei, angehalten, ihn bedroht und gezwungen, sie in einem Renault-Lieferwagen einzuschleusen, nachdem sie zuvor an einem anderen Ort eine große Gasflasche geladen hätten. Der Wache an der Einfahrt sei nichts aufgefallen, da dieser Handwerker jeden Tag mit diesem Auto ein- und ausgefahren sei. Der oder die Täter hätten den Mann gezwungen, das Auto auf dem Parkplatz neben dem Haupteingang des Palais abzustellen. Dann hätten sie den Handwerker gezwungen, zusammen mit einem der Täter oder dem Täter die Gasflasche in den Keller des Gebäudes zu tragen. Sofort darauf hätten beide sich wieder ins Auto gesetzt und das Gelände des BGH verlassen, der oder die Täter wieder verborgen im fensterlosen Lastraum des Wagens. Nach dem Wagen und dem Handwerker werde gesucht, bisher habe die Polizei keinen Hinweis auf deren Verbleib. In der Gasflasche habe sich der Sprengstoff befunden, der Zünder sei später mit einem Handy ausgelöst worden.
Spät am Abend wurde der Präsident des baden-württembergischen Verfassungsschutzes im Fernsehen befragt. Nein, von der Gruppe Dar al-Islam habe sein Amt noch nichts gehört. Aber das sei ein Kennzeichen des heutigen Terrorismus, dass überall Gruppen entstünden, die sich für berufen hielten, die westliche Zivilisation zu bekämpfen. "Wenn Sie so wollen, der Feind ist mitten unter uns. Schon lange."

2

Drei Monate vor dem Anschlag.
Ihr Blick folgte einem Frachter, der tief im Wasser lag. Sie sah weißen Bugschaum. Da unten floss der Charles River zum Atlantik. Ein wenig erinnerte er sie an die Elbe, die Hamburg mit der Nordsee verband. Sie war mit ihrer Mutter vor zwei Jahren in Hamburg gewesen. Die war eines Tages auf die Idee gekommen, nach Deutschland zu fliegen. Sie wollte die Heimat noch einmal sehen. Und so mieteten sie ein Auto und fuhren in die Heide, durch kleine Städte und Dörfer irgendwo zwischen Hamburg und Hannover. Ihre Reise endete in Wolfsburg. "Fast wärst du hier geboren worden", sagte die Mutter. "Wir haben hier nach dem Krieg gewohnt." Sie zeigte auf die riesigen Schornsteine, die in den blauen Himmel ragten. Als wäre das Werk ein riesiges Kirchenschiff mit vier Türmen. "Um das da wiederaufzubauen. Dein Vater hat dort gearbeitet. Wie fast alle anderen hier." Cecilia erinnerte sich, wie fremd ihr diese Stadt erschien, deren Herz ein Autowerk war und die nur für dieses Werk lebte.
Sie waren bald wieder abgefahren, die Mutter schwieg auf der Rückreise nach Hamburg, und Cecilia fühlte, der Mutter war es nicht um Hannover oder Hamburg gegangen, nicht um die Heide, sondern um den kürzesten Besuch von allen, den in Wolfsburg.
Irgendwo zwischen Boston und Hamburg trafen sich gewiss Wassermoleküle der Elbe und des Charles River. Sie schloss die Augen und versuchte sich Meeresströmungen vorzustellen, die sich in Orkanwellen mischten. Doch dann hatte sie wieder die Bilder des heutigen Nachmittags vor Augen. Wie sie in der ersten Reihe der kleinen Friedhofskirche gesessen hatte, neben ihr Elizabeth, die einzige Freundin der Mutter, oder so etwas Ähnliches wie eine Freundin. Und natürlich war Paula erschienen, nicht wegen der Mutter, sondern um Cecilia beizustehen. Die Beerdigung hatte Cecilia wie aus der Ferne erlebt, die Trauerrede hatte sie eigentlich nicht gehört. Erst als der Sarg im Boden verschwand, um verbrannt zu werden, da hatte sie verstanden, dass ihr demnächst die Urne ausgehändigt würde, die Asche ihrer Mutter. Sie hörte in sich hinein, ob die Vorstellung etwas bewegte in ihr, aber da war nichts.
Das Wasser rauschte im Bad, dann klackte die Tür. Paula näherte sich, die Falten in ihrem Gesicht schienen noch tiefer zu sein. Sie setzte sich aufs Sofa, Cecilia gegenüber, blickte zum Fenster hinaus und sagte: "Viel schöner kann man nicht wohnen. Jedenfalls nicht, wenn man nicht stinkreich ist."
Da fiel Cecilia ein, dass die Wohnung nun ihr gehörte. Hier hatte sie ihre Mutter in den vergangenen Jahren gepflegt. In der letzten Zeit war es hart gewesen, die Mutter hatte sie manchmal nicht erkannt, weigerte sich oft zu essen und schien darauf zu warten, endlich sterben zu können. Ihr Gedächtnis schwand, sie wurde oft wütend, klagte, bat, sie endlich zu töten – "das wollt ihr doch sowieso" –, sprach mit Menschen, die nicht anwesend waren und die Cecilia nicht kannte. Manchmal aber schien die Erinnerung zurückzukommen oder für bestimmte Ereignisse noch nicht gelöscht zu sein.
Paula blickte Cecilia lange an, aber sie sagte nichts, dann schaute sie hinaus auf den Fluss. Ein Motorboot raste schlingernd zum anderen Ufer.
"Ich habe ... dir ... nicht ... alles gesagt." Cecilia erinnerte sich genau, wie die Mutter sich gequält hatte in ihrem letzten lichten Augenblick. Das Bett stand am Fenster, etwa dort, wo Paula jetzt saß, aber die Mutter schaute nicht hinaus auf den Fluss, ihre Augen waren geschlossen. Eine Träne sickerte aus dem Auge und hinterließ eine glänzende Bahn zum Ohr. Es war ein Morgen gewesen, an dem der Sturm schwarze Wolken zum Meer jagte, manchmal kam die Sonne durch, das Licht weiß gebrochen.
"Du hast ... einen guten Vater gehabt."
Cecilia erinnerte sich, wie sie gestaunt hatte, als die Mutter dies gestand. In all den Jahren war vom Vater kaum die Rede gewesen und wenn doch, dann mit abschätzigem Unterton. Dann klang die Stimme so, wie man über einen sprach, der einer Freundin ein Kind gemacht hatte und dann abgehauen war, um sich der Unterhaltszahlung zu entziehen.
"Du hast ... einen guten Vater gehabt." Sie hatte es wirklich gesagt.
"Aber ...", entgegnete Cecilia.
Die Mutter hob die Hand ein wenig von der Bettdecke und senkte sie wieder. "Er ist gegangen. Und ich habe ihn allein gehen lassen."
"Du hattest bestimmt einen guten Grund." Cecilia sagte es mehr, um die Mutter zu trösten.
"Ich habe ihn allein gehen gelassen", wiederholte die Mutter mit leiser Stimme, was ihr Beharren noch eindringlicher machte. "Ich hätte mitgehen müssen."
Cecilia hatte überlegt, was sie erwidern sollte. Sie fand es nicht sinnvoll, einer Sterbenden zu widersprechen. Wer stirbt, hat recht. Das hatte sie mal gehört. Wo ist das gewesen und wann? Ach, egal.
"Weißt du, Cecilia, er hatte mich gefragt." Die Mutter stockte nicht mehr beim Reden. Sie sprach nun fast flüssig, als hätte sie sich endlich entschlossen zu sagen, was gesagt werden musste.
"Ob du mitkommen willst?"
"Und ich habe gesagt: Nein, wo du hingehen willst, kann ich nicht gehen."
"Aber ich muss", hatte er gesagt. "Er hatte recht, ich hab's nicht geglaubt. Ich habe ihm nicht geglaubt. Oder ich wollte ihm nicht glauben."
"Wohin?", fragte Cecilia. "Wohin ist er gegangen?" Cecilia erschrak, sie war zu heftig gewesen.
Die Mutter schloss die Augen. Das tat sie immer, wenn sie etwas anstrengte.
Cecilia hätte gern nachgefragt, sie verstand so wenig von dem, was die Mutter sagte. Sie waren kurz vor ihrer Geburt in die USA gezogen. Sie war Amerikanerin, was ging sie Deutschland an? Es war nicht gut, was sie über dieses Land erfahren hatte. Oder was der Mutter dort angetan worden war. Manchmal hatte die Mutter etwas über früher gesagt, und es hatte immer geklungen wie: Gottseidank bin ich nicht mehr dort. Gottseidank! Dort, das hieß Trümmer nach der Zerstörung durch den Krieg. Das hieß Arbeit, Arbeit und noch einmal Arbeit. Und das war etwas, das Cecilia mit Freudlosigkeit übersetzte, mit ewigem Ernst, unaufhörlicher Trübsal. Manchmal hatte die Mutter Bemerkungen fallengelassen, die sich Cecilia etwa so zusammenreimte. Es hatte sie nicht ermuntert nachzufragen. Das war alles soweit weg. Und dort sollte es bleiben. Aber sieAußerdem wollte sie die Mutter nicht bedrängen mit Fragen. Jetzt nicht mehr.
"Ich hätte mitgehen müssen." Ihre Augen waren wieder offen. Ein Sonnenstrahl fiel auf das Gesicht der Mutter und leuchtete die Falten aus. Besonders viele zerknitterten die Stirn. Dann verdunkelte eine Wolke das Licht und verjüngte das Gesicht um ein Jahrzehnt.
Cecilia schaute sie an. "Ich bin sicher, du hast alles richtig gemacht. Haben wir nicht gut gelebt?" Natürlich, ihre Scheidung war schmerzhaft gewesen, aber heutzutage hatte man doch keine Biografie, wenn man nicht wenigstens einmal geschieden war. Es war auch eine Befreiung gewesen. Seitdem hatte sie sich noch tiefer in ihrem Beruf vergraben und gutes Geld verdient als Immobilienmaklerin in einem kleinen Büro in der City, das sie mit Walter Hermit teilte. Er hatte sie nach der Scheidung eingestellt und ihr bald die Geschäftspartnerschaft angeboten. Sie kam gut mit ihm aus, nachdem sie seine Annäherungsversuche einmal deutlich zurückgewiesen hatte. Walter war sympathisch, eine ehrliche Haut, sofern man das in diesem Beruf sein konnte, und er sah gut aus. Aber er war ihr zu sehr der Typ Sonnyboy, und nach der Scheidung hatte sie keine Lust auf Beziehungen gehabt. Wenn sich die Sehnsucht nach Liebe oder auch nur Sex bemerkbar machte, musste sie sich nur die letzten eineinhalb Jahre mit Jonathan ins Gedächtnis rufen, in denen sie erlebt hatte, wie krankhafte Eifersucht aus einem unwiderstehlichen Mann einen Dreckskerl gemacht hatte, der sie fortlaufend des Fremdgehens bezichtigte, ohne dass sie jemals die Gelegenheit dazu genutzt hatte. Ich hätte mit anderen Männern ins Bett gehen müssen, dann hätte der Irrsinn wenigstens einen Sinn gehabt, dachte sie. Aber das Ungeheuerliche war, dass Jonathan fremd ging, dass er wohl ein halbes Jahr mit einer Nachbarin ins Bett stieg, und sie es nicht gemerkt hatte. Erst als die Ehe geschieden war, hatte Jonathan es ihr gestanden, ermutigt durch ein paar Wodka. Es war ein Verrat gewesen. Dass ihr so etwas passierte. Dass ein krankhaft eifersüchtiger Mann sich die Frechheit herausnahm, genau das zu tun, was er ihr ohne jeden Grund immer wieder vorgeworfen hatte, zum Teil in abstoßenden Szenen: Er hatte geheult, geschrien, Selbstmord angekündigt. Das alles machte sein Verhältnis mit der Nachbarin noch schlimmer. Auch dass Cecilia diese Nachbarin schon vorher als ein nichtssagendes Wesen empfunden hatte, an das schon keiner mehr dachte, sobald es um die Ecke gegangen war. Mit der! Aber nun war sie darüber hinweg, meistens jedenfalls. Vielleicht würde sich die Enttäuschung nie völlig verdrängen lassen. Der Verrat, der Betrug, die Lügen.

"Was überlegst du?", fragte Paula.
Da, wo vor kurzem noch das Bett der Mutter auf Rollen gestanden hatte, war nichts mehr außer den Eindrücken im Teppichboden. Er war grau und fleckig. Sie würde ihn demnächst austauschen. "Ich dachte an das letzte Gespräch mit meiner Mutter. Als sie noch einmal klar war, jedenfalls klarer als in den Tagen zuvor."
Paula lächelte. Sie war Cecilias beste Freundin, sie kannten sich seit der gemeinsamen Schulzeit. "Ja, das bleibt einem im Gedächtnis." Paulas Eltern waren schon lange tot.
Cecilia nahm Paula in diesen Augenblicken nicht wahr. Die Mutter hatte früher immer gesagt, der Vater habe sie verlassen, als sie schwanger gewesen sei. "Dein Vater hat mich verraten", sagte sie einmal, als Cecilia keine Ruhe gab. Alle ihre Freundinnen hatten Väter. Warum sie nicht? Dass er nicht gestorben war, war ihr von Anfang an klar gewesen. "Er hat jetzt bestimmt eine Jüngere, eine, die ihm nicht widerspricht. Er hat ja immer so genau gewusst, was richtig ist und was falsch. Sei froh, dass du diesen Vater nicht hast. Besser keinen Vater als diesen."
Aber im letzten Gespräch sagte die Mutter: "Du hast einen guten Vater gehabt." Ein paar Minuten später wiederholte sie es. Die Mutter hatte Cecilia also angelogen in all den Jahren zuvor. Was sollte Cecilia tun? Böse sein konnte sie ihrer Mutter nicht mehr. Das war sie früher oft gewesen, aus lächerlichen Gründen. Cecilia war kein einfaches Kind gewesen. Die Mutter hatte sie verzogen, wollte ihr den Vater ersetzen. Und als Cecilia merkte, dass die Jungs ihr nachschauten, galt sie bald als hochnäsig und zickig. Sie betrachtete sich gern im Spiegel und bildete sich einiges ein auf ihr Aussehen, schlank, hochgewachsen, volle blonde Haare. Nicht nur ein bisschen Unnahbarkeit war ihr geblieben, ja, sie pflegte diese Eigenheit, weil diese sie noch interessanter machte. Und sie konnte nicht erkennen, dass es nachteilig für sie gewesen wäre. Besser als langweilig war es allemal. Und schön war sie immer noch.
Paula dagegen war unscheinbar. Natürlich hatte sie nie eine Chance gehabt bei den Jungs, wenn sie mit Cecilia zusammen unterwegs gewesen war. Auf Partys war sie das Mauerblümchen, aber sie trug ihr Schicksal gelassen, fast freudig. Sie war immerhin die beste Freundin der Klassenqueen, das verschaffte ihr Ansehen, es fiel gewissermaßen etwas vom Glanz für sie ab. Cecilia wusste nicht, wie Paula es schaffte, sich wohl zu fühlen in ihrer Rolle. Aber sie hatte auch nie wirklich darüber nachgedacht. Gewundert hatte sie sich manchmal, mehr nicht.
"Und ich habe ihn verlassen. Nicht er mich, obwohl er gegangen ist." Ihre Stimme war leise, aber dadurch umso eindringlicher. "Das muss man verstehen. Ich hätte es verstehen müssen. So schlimm war das Leben dort doch nicht. Und vielleicht hätten wir ja wieder zurück gekonnt. Die Dinge ändern sich. Ich habe ihn verraten."
Cecilia verstand nicht ganz, was die Mutter sagte. Doch begriff sie, dass sie sich lange gequält haben musste mit ihrer Entscheidung, ihrem Mann, Cecilias Vater, nicht zu folgen. Cecilia lag die Frage auf der Zunge, ob der Vater noch lebe, aber sie schwieg. Sie musste sich erst daran gewöhnen, dass die Mutter sie belogen hatte.
"Ich habe nie wieder etwas von ihm gehört." Die Mutter strich mit der Hand über die Bettdecke. Die Hand zitterte. "Und ich habe dir deinen Vater genommen."
"Er ist gegangen, nicht du", sagte Cecilia und wusste gleich, ihre Mutter würde sich so nicht trösten lassen.
"Er musste weg. Ich habe nie mehr etwas von ihm gehört."
Cecilia drängte es zu fragen, was der Vater beim Abschied gesagt hatte, aber sie hatte Angst, dass es die Mutter zu stark schmerzen würde.
Paula räusperte sich. Sie stand auf und ging ein paar Schritte zum Fenster. Sie kehrte Cecilia den Rücken zu und schaute hinaus. Ohne sich umzudrehen, sagte sie: "Man begreift es nicht, wenn jemand stirbt. All die Jahre war er da, dann soll er plötzlich weg sein für alle Zeit."
"Ich habe einen Vater", sagte Cecilia. Sie flüsterte fast.
Paula drehte sich um, lächelte sie an, aber in ihrem Gesicht stand ein Fragezeichen. Vielleicht dachte sie, jeder Mensch hat einen Vater. Aber Cecilia hatte nie etwas über ihren Vater erzählt. Als Paula sie vor langer Zeit gefragt hatte, wo ihr Vater sei, als die Neugier ihre Angst, etwas Bedrückendes anzusprechen, besiegt hatte, da hatte Cecilia nur gesagt: "Ich kenne ihn nicht." Und ihre Gestik und Mimik hatten gesagt: Er hat sich nicht um mich gekümmert, was soll ich mich um ihn kümmern?
"Vielleicht lebt er noch", sagte Cecilia.
Paula nickte. Sie setzte sich wieder und schaute Cecilia in die Augen. "Dann muss er aber sehr alt sein." Es klang, als wollte sie sagen: Mach dir keine Hoffnung, der ist längst tot. Dann fragte sie: "Er hat wirklich nie von sich hören lassen?" Und es klang, als wollte sie fragen: Warum interessiert er dich plötzlich?
"Ja, aber nun weiß ich, warum er sich nie gemeldet hat."
"Ja?"
Cecilia antwortete nicht. Sie spürte ein Gefühl in sich, das sie nicht recht begreifen konnte. Etwas zwischen Enttäuschung und Zorn, auch Trauer. Warum hatte die Mutter so lange geschwiegen? Nein, warum hatte sie so lange gelogen? Ihr Schweigen nach der Erklärung, der Vater sei weggegangen, war eine Lüge. Sie hatte der eigenen Tochter den Vater gestohlen. Mochte doch sein, dass Cecilia nach Europa gereist wäre, um ihren Vater kennenzulernen. Vor zwanzig Jahren, da hatte er bestimmt noch gelebt. Sie hatte nicht einmal gewusst, wie er hieß.
Franz.
Als sie eines Tages mitten im Sommer aus der Schule nach Hause kam, brannte das Feuer im Kamin. Die Mutter legte immer mehr Papier nach. Der Ascheberg verriet, dass sie schon viel verbrannt hatte. Die Mutter sagte nichts, als Cecilia ins Wohnzimmer trat und einfach nur schaute. Aber ihr Gesicht war hart gewesen wie eine Maske, als wollte sie sich zwingen, kein Gefühl zu zeigen. Erst nach dem Tod der Mutter verstand Cecilia, die Mutter hatte ihre Vergangenheit verbrannt. Sie hatte es nicht mehr ausgehalten mit den Briefen und Papieren, in denen ihre Lüge weiterlebte. Sie hatte versucht mit den Papieren die Lüge zu zerstören, aber es war ihr nicht geglückt. Erst auf dem Totenbett hatte die Mutter die Wahrheit wiedergefunden. Cecilia bildete sich ein, die Mutter sei zufrieden gestorben, ihr Gesicht kam Cecilia fast entspannt vor.
"Weißt du, sie ist eingeschlafen, ganz ruhig, und nicht mehr aufgewacht. Das konnte sie wohl nur, weil sie sich von der Lüge befreit hatte."
Paula schaute sie ungläubig an. Für sie war Cecilias Mutter ein Sinnbild von Rechtschaffenheit gewesen. Kein Mensch, den man liebt, dazu war die Mutter zu spröde gewesen, aber ein Mensch, den man achtet, an dem nichts Falsches war. "Sie hat dich also angelogen?" In ihrer Stimme schwang Ungläubigkeit mit.
"Mein Vater ist nicht abgehauen, sie hat ihn verlassen, noch während sie schwanger mit mir war." Cecilia brach ab, sie sah, Paula verstand sie nicht.
Paula dachte nach, dann sagte sie: "Deine Mutter hat dir also den Vater gestohlen."
Gestohlen ist vielleicht das falsche Wort. Und doch war es so, dachte Cecilia. Sie hatte keinen Vater gehabt, weil die Mutter nicht zu ihrem Mann gestanden hatte, als es ihm offenbar schlecht ging. Cecilia schaute sich um in ihrem Wohnzimmer, eigentlich war es das Wohnzimmer der Mutter, sie lebte in einem der Beacon Hill Apartments, nicht weit entfernt. Sie hatte in letzter Zeit hin und wieder gedacht, es sei günstiger für sie, in die Wohnung am Charles River zu ziehen, die sie nun geerbt hatte. Aber seit dem Geständnis war diese Idee verflogen. Sie musste hier weg.
"Kannst du diese Wohnung für mich vermieten?"
Paula schaute sie erstaunt an. Aber nicht, weil sie es als Zumutung empfand, etwas für ihre Freundin zu tun. Das war sie gewohnt. Sie verstand allerdings nicht, warum Cecilia eine Wohnung vermieten wollte, die viel schöner war als ihre. Und dieser Blick auf den Fluss war unbezahlbar. "Natürlich", sagte Paula. "Ich kenne einen Makler, der macht das gerne."
"Und kannst du in meiner Wohnung nach dem Rechten sehen? Vielleicht einmal die Woche? Die Nachbarn gießen die Blumen. Aber man weiß ja nicht."
"Gewiss", sagte Paula. "Aber was hast du vor?"

***