|
|
"Aufklärerisch"
Christian von
Ditfurth beschreibt in seinem historisch-politischen Essay SPD - eine Partei
gibt sich auf den Identitätswandel der SPD seit ihrer Gründung. Die SPD
hatte Erfolg, weil sie trotz aller Wandlungen ihren Grundsätzen treu blieb.
Die Schröderisierung der SPD, ihre Unterordnung unter Kapitalinteressen, der
Krieg gegen Jugoslawien et cetera verletzen dagegen sozialdemokratische Grundsätze.
„Die SPD macht sich überflüssig", so die provozierende These Ditfurths.
Auch wenn man Ditfurths bissiger Kritik zustimmen mag, stellt sich doch die
Frage nach den Gründen dieser "Selbstaufgabe". Sind es in erster
Linie Opportunismus und Karrieresucht der sozialdemokratischen Leitwölfe,
die den Identitätsverlust zu verantworten haben? Der geneigte Leser erfährt
leider wenig über die veränderten ökonomischen, sozialen und politischen Bedingungen,
die die Politik und die Parteien unter Anpassungszwang setzen, so sie im Machtspiel
erfolgreich sein wollen. Gleichwohl ist Ditfurths Polemik gegen Schröders
(wirtschafts-) politisches Selbstverständnis und gegen die "moderne"
sozialdemokratische Positionsbestimmung, wie sie etwa im Schröder/Blair-Papier
zum Ausdruck kommt, aufklärerisch in dem Sinne, dass sie die Irrwege und blinden
Flecke dieser neoliberalen Neugründung der SPD deutlich macht.
Ralph
Graf, Kommune, September 2000
Fortgesetztes Kompromisseln
Die SPD gibt sich auf,
glaubt Christian von Ditfurth. Schlüssige Beweise liefert sein spannendes
Buch nicht.
Was verleitet einen recht bekannten Autor und Historiker, der ein gutes Jahr
lang - 1999/2000 - Mitglied der SPD war, gleich ein ganzes Buch über den Untergang
dieser Partei zu schreiben? Um es vorwegzunehmen, die Motive Christian von
Ditfurths bleiben weitestgehend im Dunklen: persönliche Rechenschaftslegung,
„Abrechnung", Appell?
So muss sich der Leser mit dem Autor auf eine lange Reise begeben und weiß
nicht recht warum (zumal, wenn er die SPD lebendig weiß). Ditfurth fängt bei
den großen programmatischen Auseinandersetzungen an zwischen den Revisionisten
und den Marxisten. Bernstein hie, Bebel und der orthodoxe Kautsky in der Mitte,
und Luxemburg da.
Doch die Überraschung ist groß. Richtig spannend bereitet Ditfurth den Stoff
auf. Man fühlt sich um 100 Jahre zurückversetzt. Der Autor kennt seinen Marx
aus dem Effeff und auch Bernstein, für den sehr viel Sympathie durchscheint,
hat er genauso sorgfältig studiert.
Daran anknüpfend kommt er zur Malaise der SPD. Er fixiert ihren Beginn auf
den 4. August 1914, den Tag, als die sozialdemokratische Reichstagsfraktion
mehrheitlich den Kriegskrediten zustimmt. Diese Entscheidung, so Ditfurth,
macht die „Lebenslüge" der SPD deutlich. Den Widerspruch zwischen ihrer
radikalen Programmatik und ihrer politischen Praxis. Nicht nur resultiert
daraus die Spaltung der Partei und der Arbeiterbewegung, Ditfurth sieht in
dem fortgesetzten „Kompromisseln" auch die Schwäche der SPD in der Auseinandersetzung
mit den Nationalsozialisten. Nur reitet er darauf solange rum, dass man am
Ende glauben muss, die SPD habe den Braunen noch die Steigbügel gehalten.
Konnte die SPD in der Vergangenheit wenigstens die Aufgabe alten Terrains
(Marxistische Programmatik) mit der Besetzung von neuem (Godesberger Programm)
kompensieren, so ist sie verloren, seit die „Schröders" an der Macht
sind. Für den Leser bleiben bei solchen Kurzschlüssen viele Fragezeichen.
Die wichtigen löst Ditfurth nicht auf. Zum Beispiel: Wie soll die künftige
Rolle der modernen linken Volkspartei SPD sein? Ditfurth sollte es nach dem
Studium von Bernstein besser wissen. Der war, wie er selbst ausführlich beschreibt,
den großen Fragen seiner Zeit zugewandt. Doch Bernstein aufs Heutige zu wenden,
gelingt ihm nicht. Gerade dies aber wäre eine schöne Aufgabe: den Vordenker
der modernen Sozialdemokratie neu zu entdecken!
Vorwärts, Nr. 9/2000
Eine kritische Betrachtung
der SPD
Ditfurth wirft
der SPD "programmatische Dürftigkeit und politische Orientierungslosigkeit"
vor, was sie mit dem "Zauberwort der Stunde 'Modernisierung'" verdecke, was
nichts anderes sei als die Abschaffung jeglicher Reste sozialdemokratischer
Politik. Daher stelle sich die Frage, wozu es überhaupt noch eine sozialdemokratische
Partei geben muss. Er prägt für den gegenwärtigen Zustand der Politik der
SPD den Begriff "Schröderisierung" - das Unterwerfen von Politik und Gesellschaft
unter die Verwertungsbedingungen des Kapitals und ein Hoffen auf Arbeitsplätze
und Wohlstand als Gegenleistung (S. 296). Das sei der Abschied von der Politik,
an deren Stelle die Verwaltung der Geschäftsinteressen des Kapitals tritt.
Ditfurth zeigt in einem historisch-politischen Essay, wie sich die Identitätsveränderung
der deutschen Sozialdemokratie seit ihrer Gründung durch August Bebel vollzogen
hat. Der erste tiefe Wandel geht zurück auf Eduard Bernstein, der den "demokratischen
Sozialismus der SPD" begründet habe (S. 22-130). "Unter oftmals lauten sozialistischen
Proklamationen wuchs die Sozialdemokratie in die bürgerliche Gesellschaft
hinein ... Sie schuf sich in der bürgerlichen Gesellschaft eine eigene Lebenswelt
..." (S. 131). Das Görlitzer Programm der SPD 1921 sei ein später Sieg Bernsteins
gewesen, die Weimarer Republik die "Bewährungsprobe des demokratischen Sozialismus"
(S. 202-243). Der Neuanfang des demokratischen Sozialismus nach dem Ende des
zweiten Weltkrieges habe in der Strategie des "Sozialismus als Tagesaufgabe"
(Kurt Schumacher) seinen Ausdruck gefunden. Damit wird einmal mehr deutlich,
welche unterschiedliche inhaltliche Ausdeutung der demokratische Sozialismus
erfährt, den Ditfurth in seiner historischen Betrachtung mehr oder weniger
im Reformismus à la Bernstein verkörpert sieht. Treffend stellt er fest, dass
die Propagierung des demokratischen Sozialismus durch die SPD im Lauf der
Jahre an sozialistischem Inhalt verloren hat und mittlerweile der Begriff
"Sozialismus" aus ihrer Programmatik gestrichen werden soll. Ditfurth dazu:
"Das wäre folgerichtig, legt man die Politik der Partei als Maßstab an. Als
identitätsstiftendes Bindemittel hat der demokratische Sozialismus in den
Augen bedeutender Teile der Partei ausgedient. Stattdessen soll künftig von
der sozialen Demokratie gesprochen werden - ein Vorschlag, den Vertreter des
rechten Parteiflügels gemacht haben."
Was bleibt also von der SPD? Ist das "sozialdemokratische Jahrhundert", wie
der liberale Soziologe Ralf Dahrendorf bereits Anfang der achtziger Jahre
meinte, beendet, da nunmehr "alle Parteien sozialdemokratisch geworden" seien?
Die Sozialdemokratie begann als revolutionäre Arbeiterpartei, hat aber in
ihrer wechselvollen Geschichte diese Identität nie verwirklicht. Sie hat viele
Identitätskrisen durchlitten, aber immer wieder Identitätsverluste durch Identitätsgewinne
ausgleichen können. "Aber spätestens unter Kanzler Schmidt war der Aufbruch
beendet und die industrie- und wachstumsbornierte Wirtschafts- und Finanzpolitik
trieb jene Teile der Gesellschaft, die sich den neuen Herausforderungen stellten,
weg von der SPD, hin zu den Grünen ... Die Grünen waren tatsächlich Fleisch
vom Fleisch der SPD ... Gewinne für die Grünen waren gleichbedeutend mit Verlusten
für die SPD." (S. 288) Ditfurth kommt zu der Auffassung, dass der zugunsten
Schröders entschiedene innerparteiliche Richtungsstreit der PDS die reale
Chance bietet, zur gesamtdeutschen linken Partei heranzuwachsen. Ditfurth
dazu: "Die PDS ist für die SPD gefährlicher, als es die Grünen je waren. Die
PDS profitiert auch im Westen von der Schröderisierung der SPD, vom Marsch
nach rechts. Hinzu kommt, dass die SPD von der PDS massiv auf das gestoßen
wird, was der demokratische Sozialismus einmal war... Viele sozialdemokratische
Wähler werden durch die Politik und die Aussagen der PDS an das erinnert,
was SPD-Politik sein müsste." (S. 290) Wenn die CDU/CSU aus dem Parteienspendenjammertal
steigt und die PDS ihr demokratisch-sozialistisches Profil schärfen kann,
werden, so Ditfurth, "die Symptome der latenten Krise der Sozialdemokratie
wieder zu Tage treten. Das ist nur eine Frage der Zeit. Denn Schröders Modernisierung
heißt, die SPD von dem zu befreien, was sozialdemokratisch ist." (S. 291)
Ditfurths Betrachtung ist allen zu empfehlen, die an einer Debatte zu einem
demokratischen Sozialismus interessiert sind. Unterschiedliche Positionen
in der SPD beleuchten zwei dem Buch beigefügte Dokumente: "Der Weg nach vorne
für Europas Sozialdemokraten. Ein Vorschlag von Gerhard Schröder und Tony
Blair" und "Soziale Gerechtigkeit bleibt unsere Aufgabe - Kurshalten statt
Neoliberalismus. Positionspapier von SPD-Linken im Bundestag".
Kurt Schneider, Leipzigs Neue, 5. Januar 2001
Nicht ernst gemeint
Abiederung an die Machthaber
Christian v. Ditfurths Abrechnung mit der SPD
In
Berlin gibt es eine S-Bahn-Station namens Anhalter Bahnhof. Den Bahnhof
freilich gibt es längst nicht mehr. Von ihm ist nur ein Ruinenfragment geblieben,
das mahnend, aber funktionslos in die Gegend ragt.
So ähnlich verhält es sich mit der SPD. Sie trägt zwar die Bezeichnung "sozialdemokratisch"
in ihrem Namen, aber von all dem, was diesen Begriff einmal inhaltlich ausmachte,
ist kaum etwas geblieben. Und so dürfte der Titel eines Buchs von Christian
v. Ditfurth, SPD - eine Partei gibt sich auf, spontan auf Zustimmung
stoßen. Der Prozess dauert schon eine Weile an, er ist nicht auf die deutsche
Sozialdemokratie beschränkt, aber dass die Sozialdemokratie mittlerweile mit
ihrer ehrwürdigen Tradition gebrochen, dass sie längst auf ihre essentials
verzichtet hat, ist evident.
Manche loben diese Entwicklung, andere sehen sie mit Trauer, wieder andere
haben dafür nur Häme übrig. Man kann verschieden darauf reagieren, nur leugnen
kann man sie nicht. Dass zwei Drittel der Wirtschaftsbosse einem sozialdemokratischen
Bundeskanzler Beifall zollen würden, dass sie bei ihm ihre Interessen besser
aufgehoben wissen als bei der CDU, das hätten sich die Gründer der SPD, die
Führer der Arbeiterbewegung, nicht träumen lassen. So ist denn die Frage,
die der Zeitgeschichtler in seiner knappen Vorbemerkung stellt, rhetorisch.
Nämlich, "ob die SPD sich nicht überflüssig macht, wenn sie auf das verzichtet,
was sie wesentlich von allen anderen Parteien unterscheidet".
Der
Rest des Buchs dient genau dem Nachweis der genannten Voraussetzung, also
der ebenfalls evidenten Tatsache, dass die SPD nach und nach auf alles verzichtet,
was sie von anderen Parteien unterscheidet. Dass die SPD die bessere CDU sei,
ist mehr als ein Wortspiel, und die Kündigung der einstigen Position - wiederum:
nicht nur in Deutschland - ist ja auch die Bedingung dafür, dass inzwischen
ehemalige kommunistische Parteien diese Position ausfüllen können. Vieles,
was Gregor Gysi heute sagt, hätte man vor noch gar nicht so langer Zeit aus
dem Munde sozialdemokratischer Politiker zu hören bekommen. Was nicht unbedingt
für Gysi, aber gewiss gegen die Sozialdemokratie spricht. Christian
v. Ditfurth macht sich munter, leidenschaftlich und mit einer gehörigen Portion
Subjektivität an sein Thema heran. Er tut gar nicht erst so, als ginge es
ihm nicht unter die Haut. Das wird man ihm - das ist vorauszusehen - vorwerfen.
Hätte er sich um mehr Sachlichkeit bemüht, hätte er Objektivität vorgetäuscht,
so hätte man sich vermutlich über die Trockenheit der Darstellung, über den
Mangel an Engagement beschwert. Für Kritik der vorliegenden Art gibt es stets
Immunisierungsstrategien, die nur verschleiern sollen, worum es wirklich geht:
um die Verhinderung von Kritik.
Besonders schmerzt den
Autor, und nicht nur ihn, der Verlust der Kompetenz für soziale Gerechtigkeit,
den Umfragen der SPD Gerhard Schröders mit gutem Grund attestieren. Er ist
die Kehrseite der Medaille, die eine Wirtschaftspolitik propagiert, die nach
Schröders Worten nicht sozialdemokratisch, sondern nur gut oder schlecht sein
kann und in der Praxis vor allem für die Unternehmer gut ist, also nicht eben
für die traditionelle sozialdemokratische Klientel.
Als Ausgangspunkt - sozusagen zur Etablierung des Maßstabs - an dem sich die
Selbstaufgabe der SPD überprüfen ließe, wählt v. Ditfurth eine differenzierte
Darstellung der Positionen Eduard Bernsteins, die gut ein Drittel des Buchs
füllt. Ein weiteres Drittel widmet er, immer mit Rückverweisen auf Bernsteins
Einflüsse, der Geschichte der 'deutschen Sozialdemokratie bis zum Ende des
Zweiten Weltkriegs. Ein besonders dunkles und wenig bekanntes Kapitel beschäftigt
sich mit der Haltung der SPD zu Hitler. Die SPD-Führer, so weiß v. Ditfurth
zu berichten, gingen Anfang April 1933 hart gegen eigene Genossen vor, als
die Berliner Organisation der Sozialistischen Arbeiterjugend "in die
Illegalität übergehen wollte, um den Widerstand gegen das braune Regime zu
organisieren". Lapidar fügt er hinzu: "Statt Widerstand gab es eine
Anbiederung an die neuen Machthaber." Und er liefert dafür Belege.
SPD-Genossen erbaten von Hermann Göring Reisepässe, mit denen sie dann ins
Ausland fuhren, um "ihre europäischen Bruderparteien davon abzuhalten,
das NS-Regime allzu hart zu kritisieren". Kaum bekannt dürfte auch sein,
dass die SPD im März 1933 aus der Sozialistischen Arbeiter-Internationalen
austrat, weil diese zwei Resolutionen gegen die NS-Machthaber ohne Konsultation
mit den deutschen Genossen beschlossen hatte. Nur das Verbot der SPD konnte
verhindern, dass die in Deutschland verbliebenen Funktionäre der SPD unter
Paul Lobe, die sich offiziell von den in die Emigration gegangenen Parteiführern
distanzierten und im Reichstag mehrheitlich Hitlers Friedensresolution zustimmten,
zu Kollaborateuren der Nazis wurden. In diesem Zusammenhang erscheint die
jüngst publik gewordene Tatsache, dass die österreichische Bruderpartei der
SPD nach 1945 mit großem Elan ehemalige Nationalsozialisten aufgenommen und
deren Vergangenheit verschleiert hat, in neuem Licht.
Eine Kontinuität, die
v. Ditfurth zu Recht beklagt, besteht darin, dass die SPD "zu oft das
Gegenteil von dem praktizierte, was sie gefordert oder versprochen hatte".
In der Weimarer Republik betraf das etwa den Panzerkreuzerbau, nach dem Godesberger
Programm die Überführung großer Wirtschaftsgebilde in Gemeineigentum, die
Investitionskontrolle, die Unternehmensverfassung für die Großwirtschaft oder
die Änderung der ungerechten Einkommens- und Vermögensverteilung. Eingestandenermaßen
zugespitzt formuliert v. Ditfurth: "Bis heute trauen sich manche Sozialdemokraten
nicht mehr, auf das gültige Parteiprogramm zu verweisen, denn nur Naive können
annehmen, dieses sei ernst gemeint und würde die Regierungsarbeit beeinflussen."
Und zum Beleg zitiert er aus dem Berliner Programm von 1989, in dem die Rede
ist von einer von Klassenschranken befreiten Gesellschaft, vom Abbau von Privilegien
und von der Vollendung der Demokratie. Darauf folgt ein Satz, der ungeschützt
ausspricht, was immer mehr potenzielle Sympathisanten von der SPD abstößt:
"In Wahrheit will die gegenwärtige sozialdemokratische Politik die Reichen
noch reicher machen in der Hoffnung, dass dabei Arbeitsplätze entstehen."
Dieser Satz ist leider ebenso wahr wie banal. Zu Bernsteins Zeiten und noch
vor kurzem hätte er allenfalls die konservativen Gegner charakterisiert. Er
ist eines der stärksten Argumente dafür, dass sich die SPD aufgibt.
Dieser Zustand freilich hat eine Vorgeschichte. Er ist das bisherige Ende
eines seit langem anhaltenden Prozesses. Mit einer hohen Plausibilität behauptet
v. Ditfurth: "Die Grünen besetzten den Platz, den die Schmidt-SPD links
frei gemacht hatte. Es gibt in der Politik kein Vakuum, die Nachfrage schafft
sich ihr Angebot." Nur sind die Grünen von heute nicht mehr die Grünen
aus der Zeit Helmut Schmidts, ist die Regierungspartei Joschka Fischers weit
entfernt von der oppositionellen Basisbewegung. Wer heute den Platz besetzen
wird, den die SPD und auch die Grünen frei machen, steht noch nicht fest.
Es muss nicht unbedingt eine linke Partei sein. Dieses Beispiel vermittelt
eine Ahnung, was da in Zukunft drohen könnte. Das österreichische Beispiel
ist übrigens auch ein Argument für v. Ditfurths These, dass die meisten Arbeiter
nie sozialistisch waren, sondern ihre Partei, die SPD, als ihre politische
Interessenvertretung in der bürgerlichen Gesellschaft begriffen. In dem Augenblick,
da offensichtlich wird, dass die Sozialdemokratie die Interessen der Arbeiter
nicht mehr vertritt, weil sie eben dafür sorgt, dass die Reichen noch reicher
werden, kann ein Haider, der genau die Vertretung dieser Interessen verspricht,
Zulauf gewinnen, und zwar eben bei jenen Arbeitern, die traditionell sozialdemokratisch
wählten.
"Die Schröderisierung
ist gleichbedeutend mit dem Verzicht, die Gesellschaft gegen die Interessen
der Unternehmer zu verändern", fasst v. Ditfurth zusammen. Und klingt
es nicht abenteuerlich, was Gerhard Schröder 1997 erklärte: "Wir werden
damit Schluss machen, dass naturwissenschaftliche und technologische Innovationen
zunächst auf ihre Risiken abgeklopft werden, ehe man sich ihren Chancen zuwendet."
Ähnliche Äußerungen, die bei jeder Aktionärsversammlung von Hoechst oder DaimlerChrysler
willkommen wären, kann man freilich auch von sozialdemokratischen Funktionären
in anderen Ländern hören. Ein Manko des vorliegenden Buchs ist seine Deutschzentriertheit.
Es wäre eine Überlegung wert, inwiefern die beobachtete Entwicklung ein gesamteuropäischer
Befund ist. Blair und Schröder haben nicht umsonst gemeinsam ein berüchtigtes
Papier verfasst, und der Österreicher Viktor Klima hat den Preis für diese
verfehlte Politik bezahlen müssen. Er wird wohl nicht der letzte bleiben.
Thomas Rothschild,
Freitag, 30. März 2001; SWR 2 Buchtipp, 23. Mai 2001
Wozu
braucht man noch diese Partei?
Christian v. Ditfurth hat die SPD aufgegeben und über seine
Gründe ein Buch geschrieben
Er
habe eigentlich nie in die SPD eintreten und auch kein Buch über sie schreiben
wollen, bekennt Christian v. Ditfurth. Doch beides hat er unternommen. Und
das Ende der Geschichte, des Buches? "Warum soll ich weiter Wahlkampf
machen für Leute, die zu oft das Gegenteil von dem tun, was ich für sinnvoll
halte?"
Die SPD sei für Menschen, deren Maxime Ökologie und soziale Gerechtigkeit
ist, längst die falsche Partei. "Das Dilemma ist nur, dass es eine richtige
Partei nicht gibt." Auf eigentümliche Weise verbindet der Autor die Analyse
wichtiger Entwicklungen in der SPD mit eigenen Erlebnissen und Erkenntnissen.
Am Anfang steht jugendlich-linksradikaler Hass auf die SPD, den "stinkenden
Leichnam", die Partei, die sich spätestens mit dem 4. August 1914 selbst
verraten hatte. Es war ein Hass, von dem der Autor heute sagt, er sei an den
Haaren herbeigezogen gewesen; denn damals hätten er und seine Gesinnungsgenossen
so gut wie nichts über die Geschichte der Arbeiterbewegung gewusst.
Dem Einleitungskapitel
folgt eine hochinteressante ausführliche Analyse der so genannten Revisionismusdebatte
der SPD um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Sie nimmt mehr als ein Drittel
des Manuskripts ein, charakterisiert nicht nur anschaulich die Protagonisten
der Auseinandersetzung - vor allem Bernstein, Kautsky und Luxemburg -, sondern
zeigt sie auch als Keim der späteren drei Strömungen in der SPD, die schließlich
zur Spaltung der Partei führten. Der Autor nennt die Revisionismusdebatte
eine Debatte über marxistischen oder demokratischen Sozialismus, wobei Bernstein
ihm als Begründer des demokratischen Sozialismus gilt.
Scharf kritisiert das
Buch die "Sündenfälle" der SPD von der Zustimmung zu den Kriegskrediten
1914 über das Versagen in der Revolution von 1918 bis in die Weimarer Republik
und zum Machtantritt der Nazis. Das Godesberger Programm der SPD bezeichnete
Carlo Schmidt als Sieg Bernsteins auf der ganzen Linie. Der Autor stimmt dem
zu, wendet aber ein, Bernstein sei ein reformistischer Sozialist gewesen,
kein Reformpolitiker, wie er der Godesberger Linie entsprochen hätte. Behielt
die SPD mit Godesberg ihre sozialdemokratische Identität, "so bedeutet
Schröders Kurs die Aufgabe der sozialdemokratischen Identität zugunsten der
Unternehmer, als deren geschäftsführender Kanzler Schröder sich sieht".
Schröder hat erklärt, es gebe keine sozialdemokratische Wirtschaftspolitik,
sondern nur gute oder schlechte. Dem Autor drängt sich die Einsicht auf, für
den Bundeskanzler gebe es auch keine sozialdemokratische Außen-, Sicherheits-,
Innen- und Justizpolitik mehr. Er fragt: "Wenn es aber keine sozialdemokratische
Politik mehr gibt, wozu braucht es dann noch eine sozialdemokratische Partei?"
Merkwürdig kurz werden in dem Buch die politischen Erfolge der Sozialdemokratie,
ihr Einfluss auf die gesamte gesellschaftliche Entwicklung des vergangenen
Jahrhunderts behandelt. Das mag wohl dem Anliegen des Autors geschuldet sein,
die Entwicklung seines Verhältnisses zur SPD zu begründen, nicht so sehr deren
Geschichte umfassend zu würdigen. Für Menschen, die sich dem demokratischen
Sozialismus verpflichtet haben, gibt Ditfurths Buch manchen Stoff zum Nachdenken.
Es fordert geradezu auf, die Auseinandersetzung mit der heutigen SPD weiterzuführen.
Doch sollte dies vor allem unter aktuellen Aspekten geschehen, zumal die historische
Analyse wichtige Anlässe für die Kritik an der SPD liefert, aber keinen für
eine linkssozialistische Selbstgerechtigkeit.
Die kommunistischen Parteien diffamierten im Gegenteil sogar die
hellsichtige Kritik Rosa Luxemburgs an der Oktoberrevolution und lehnten die
Verbindung von Sozialismus und Demokratie als "revisionistisch"
ab. Gerade deshalb muss es die Linke meines Erachtens lernen, bei aller Schärfe
der Analyse so zu verfahren, dass sie damit nicht in die alten antisozialdemokratischen
Schützengräben zurückkehrt. Dies nicht obwohl, sondern gerade weil offenbar
der Weg der SPD in die so genannte Mitte fortgesetzt wird. Trotz ursprünglich
gleicher Herkunft wird das Verhältnis zur SPD nicht mehr das verzankter oder
verfeindeter Familienangehöriger sein. Das könnte manche emotionale Zuspitzung
vermeidbar machen. Zugleich wird das Dilemma noch größer: Mit der SPD gibt
es derzeit keine linke Politik. Ohne SPD ist sie nicht mehrheitsfähig.
Ditfurths Buch entlässt
uns ratlos: Welche Perspektive sieht der Autor für sich selbst und für den
demokratischen Sozialismus? Resigniert er? Immerhin sagt er auch dies: "Wenn
sich der Schröder-Kurs ... vollends durchsetzt in der SPD und die PDS sich
überzeugend erneuern kann, dann haben die demokratischen Sozialisten Chancen,
zur gesamtdeutschen linken Partei heranzuwachsen."
André Brie, Neues
Deutschland, 12. April 2001
Seitenanfang
|
|