Kontakt
 Christian v. Ditfurth
 Wrangelstr. 91
 10997 Berlin
 Tel.: (030) 65006136
 Fax: (030) 96601198
 E-Mail

 Stand: 25. 6. 2001

Rezensionen:

"Aufklärerisch"

Christian von Ditfurth beschreibt in seinem historisch-politischen Essay SPD - eine Partei gibt sich auf den Identitätswandel der SPD seit ihrer Gründung. Die SPD hatte Erfolg, weil sie trotz aller Wandlungen ihren Grundsätzen treu blieb. Die Schröderisierung der SPD, ihre Unterordnung unter Kapitalinteressen, der Krieg gegen Jugoslawien et cetera verletzen dagegen sozialdemokratische Grundsätze. „Die SPD macht sich überflüssig", so die provozierende These Ditfurths. Auch wenn man Ditfurths bissiger Kritik zustimmen mag, stellt sich doch die Frage nach den Gründen dieser "Selbstaufgabe". Sind es in erster Linie Opportunismus und Karrieresucht der sozialdemokratischen Leitwölfe, die den Identitätsverlust zu verantworten haben? Der geneigte Leser erfährt leider wenig über die veränderten ökonomischen, sozialen und politischen Bedingungen, die die Politik und die Parteien unter Anpassungszwang setzen, so sie im Machtspiel erfolgreich sein wollen. Gleichwohl ist Ditfurths Polemik gegen Schröders (wirtschafts-) politisches Selbstverständnis und gegen die "moderne" sozialdemokratische Positionsbestimmung, wie sie etwa im Schröder/Blair-Papier zum Ausdruck kommt, aufklärerisch in dem Sinne, dass sie die Irrwege und blinden Flecke dieser neoliberalen Neugründung der SPD deutlich macht.
Ralph Graf, Kommune, September 2000

 

Fortgesetztes Kompromisseln

Die SPD gibt sich auf, glaubt Christian von Ditfurth. Schlüssige Beweise liefert sein spannendes Buch nicht.

Was verleitet einen recht bekannten Autor und Historiker, der ein gutes Jahr lang - 1999/2000 - Mitglied der SPD war, gleich ein ganzes Buch über den Untergang dieser Partei zu schreiben? Um es vorwegzunehmen, die Motive Christian von Ditfurths bleiben weitestgehend im Dunklen: persönliche Rechenschaftslegung, „Abrechnung", Appell?
So muss sich der Leser mit dem Autor auf eine lange Reise begeben und weiß nicht recht warum (zumal, wenn er die SPD lebendig weiß). Ditfurth fängt bei den großen programmatischen Auseinandersetzungen an zwischen den Revisionisten und den Marxisten. Bernstein hie, Bebel und der orthodoxe Kautsky in der Mitte, und Luxemburg da.
Doch die Überraschung ist groß. Richtig spannend bereitet Ditfurth den Stoff auf. Man fühlt sich um 100 Jahre zurückversetzt. Der Autor kennt seinen Marx aus dem Effeff und auch Bernstein, für den sehr viel Sympathie durchscheint, hat er genauso sorgfältig studiert.
Daran anknüpfend kommt er zur Malaise der SPD. Er fixiert ihren Beginn auf den 4. August 1914, den Tag, als die sozialdemokratische Reichstagsfraktion mehrheitlich den Kriegskrediten zustimmt. Diese Entscheidung, so Ditfurth, macht die „Lebenslüge" der SPD deutlich. Den Widerspruch zwischen ihrer radikalen Programmatik und ihrer politischen Praxis. Nicht nur resultiert daraus die Spaltung der Partei und der Arbeiterbewegung, Ditfurth sieht in dem fortgesetzten „Kompromisseln" auch die Schwäche der SPD in der Auseinandersetzung mit den Nationalsozialisten. Nur reitet er darauf solange rum, dass man am Ende glauben muss, die SPD habe den Braunen noch die Steigbügel gehalten.
Konnte die SPD in der Vergangenheit wenigstens die Aufgabe alten Terrains (Marxistische Programmatik) mit der Besetzung von neuem (Godesberger Programm) kompensieren, so ist sie verloren, seit die „Schröders" an der Macht sind. Für den Leser bleiben bei solchen Kurzschlüssen viele Fragezeichen. Die wichtigen löst Ditfurth nicht auf. Zum Beispiel: Wie soll die künftige Rolle der modernen linken Volkspartei SPD sein? Ditfurth sollte es nach dem Studium von Bernstein besser wissen. Der war, wie er selbst ausführlich beschreibt, den großen Fragen seiner Zeit zugewandt. Doch Bernstein aufs Heutige zu wenden, gelingt ihm nicht. Gerade dies aber wäre eine schöne Aufgabe: den Vordenker der modernen Sozialdemokratie neu zu entdecken!
Vorwärts, Nr. 9/2000

 

Eine kritische Betrachtung der SPD

Ditfurth wirft der SPD "programmatische Dürftigkeit und politische Orientierungslosigkeit" vor, was sie mit dem "Zauberwort der Stunde 'Modernisierung'" verdecke, was nichts anderes sei als die Abschaffung jeglicher Reste sozialdemokratischer Politik. Daher stelle sich die Frage, wozu es überhaupt noch eine sozialdemokratische Partei geben muss. Er prägt für den gegenwärtigen Zustand der Politik der SPD den Begriff "Schröderisierung" - das Unterwerfen von Politik und Gesellschaft unter die Verwertungsbedingungen des Kapitals und ein Hoffen auf Arbeitsplätze und Wohlstand als Gegenleistung (S. 296). Das sei der Abschied von der Politik, an deren Stelle die Verwaltung der Geschäftsinteressen des Kapitals tritt.
Ditfurth zeigt in einem historisch-politischen Essay, wie sich die Identitätsveränderung der deutschen Sozialdemokratie seit ihrer Gründung durch August Bebel vollzogen hat. Der erste tiefe Wandel geht zurück auf Eduard Bernstein, der den "demokratischen Sozialismus der SPD" begründet habe (S. 22-130). "Unter oftmals lauten sozialistischen Proklamationen wuchs die Sozialdemokratie in die bürgerliche Gesellschaft hinein ... Sie schuf sich in der bürgerlichen Gesellschaft eine eigene Lebenswelt ..." (S. 131). Das Görlitzer Programm der SPD 1921 sei ein später Sieg Bernsteins gewesen, die Weimarer Republik die "Bewährungsprobe des demokratischen Sozialismus" (S. 202-243). Der Neuanfang des demokratischen Sozialismus nach dem Ende des zweiten Weltkrieges habe in der Strategie des "Sozialismus als Tagesaufgabe" (Kurt Schumacher) seinen Ausdruck gefunden. Damit wird einmal mehr deutlich, welche unterschiedliche inhaltliche Ausdeutung der demokratische Sozialismus erfährt, den Ditfurth in seiner historischen Betrachtung mehr oder weniger im Reformismus à la Bernstein verkörpert sieht. Treffend stellt er fest, dass die Propagierung des demokratischen Sozialismus durch die SPD im Lauf der Jahre an sozialistischem Inhalt verloren hat und mittlerweile der Begriff "Sozialismus" aus ihrer Programmatik gestrichen werden soll. Ditfurth dazu: "Das wäre folgerichtig, legt man die Politik der Partei als Maßstab an. Als identitätsstiftendes Bindemittel hat der demokratische Sozialismus in den Augen bedeutender Teile der Partei ausgedient. Stattdessen soll künftig von der sozialen Demokratie gesprochen werden - ein Vorschlag, den Vertreter des rechten Parteiflügels gemacht haben."
Was bleibt also von der SPD? Ist das "sozialdemokratische Jahrhundert", wie der liberale Soziologe Ralf Dahrendorf bereits Anfang der achtziger Jahre meinte, beendet, da nunmehr "alle Parteien sozialdemokratisch geworden" seien?
Die Sozialdemokratie begann als revolutionäre Arbeiterpartei, hat aber in ihrer wechselvollen Geschichte diese Identität nie verwirklicht. Sie hat viele Identitätskrisen durchlitten, aber immer wieder Identitätsverluste durch Identitätsgewinne ausgleichen können. "Aber spätestens unter Kanzler Schmidt war der Aufbruch beendet und die industrie- und wachstumsbornierte Wirtschafts- und Finanzpolitik trieb jene Teile der Gesellschaft, die sich den neuen Herausforderungen stellten, weg von der SPD, hin zu den Grünen ... Die Grünen waren tatsächlich Fleisch vom Fleisch der SPD ... Gewinne für die Grünen waren gleichbedeutend mit Verlusten für die SPD." (S. 288) Ditfurth kommt zu der Auffassung, dass der zugunsten Schröders entschiedene innerparteiliche Richtungsstreit der PDS die reale Chance bietet, zur gesamtdeutschen linken Partei heranzuwachsen. Ditfurth dazu: "Die PDS ist für die SPD gefährlicher, als es die Grünen je waren. Die PDS profitiert auch im Westen von der Schröderisierung der SPD, vom Marsch nach rechts. Hinzu kommt, dass die SPD von der PDS massiv auf das gestoßen wird, was der demokratische Sozialismus einmal war... Viele sozialdemokratische Wähler werden durch die Politik und die Aussagen der PDS an das erinnert, was SPD-Politik sein müsste." (S. 290) Wenn die CDU/CSU aus dem Parteienspendenjammertal steigt und die PDS ihr demokratisch-sozialistisches Profil schärfen kann, werden, so Ditfurth, "die Symptome der latenten Krise der Sozialdemokratie wieder zu Tage treten. Das ist nur eine Frage der Zeit. Denn Schröders Modernisierung heißt, die SPD von dem zu befreien, was sozialdemokratisch ist." (S. 291)
Ditfurths Betrachtung ist allen zu empfehlen, die an einer Debatte zu einem demokratischen Sozialismus interessiert sind. Unterschiedliche Positionen in der SPD beleuchten zwei dem Buch beigefügte Dokumente: "Der Weg nach vorne für Europas Sozialdemokraten. Ein Vorschlag von Gerhard Schröder und Tony Blair" und "Soziale Gerechtigkeit bleibt unsere Aufgabe - Kurshalten statt Neoliberalismus. Positionspapier von SPD-Linken im Bundestag".
Kurt Schneider, Leipzigs Neue, 5. Januar 2001


Nicht ernst gemeint
Abiederung an die Machthaber
Christian v. Ditfurths Abrechnung mit der SPD

In Berlin gibt es eine S-Bahn-Station namens Anhalter Bahnhof. Den Bahnhof freilich gibt es längst nicht mehr. Von ihm ist nur ein Ruinenfragment geblieben, das mahnend, aber funktionslos in die Gegend ragt.
So ähnlich verhält es sich mit der SPD. Sie trägt zwar die Bezeichnung "sozialdemokratisch" in ihrem Namen, aber von all dem, was diesen Begriff einmal inhaltlich ausmachte, ist kaum etwas geblieben. Und so dürfte der Titel eines Buchs von Christian v. Ditfurth, SPD - eine Partei gibt sich auf, spontan auf Zustimmung stoßen. Der Prozess dauert schon eine Weile an, er ist nicht auf die deutsche Sozialdemokratie beschränkt, aber dass die Sozialdemokratie mittlerweile mit ihrer ehrwürdigen Tradition gebrochen, dass sie längst auf ihre essentials verzichtet hat, ist evident.
Manche loben diese Entwicklung, andere sehen sie mit Trauer, wieder andere haben dafür nur Häme übrig. Man kann verschieden darauf reagieren, nur leugnen kann man sie nicht. Dass zwei Drittel der Wirtschaftsbosse einem sozialdemokratischen Bundeskanzler Beifall zollen würden, dass sie bei ihm ihre Interessen besser aufgehoben wissen als bei der CDU, das hätten sich die Gründer der SPD, die Führer der Arbeiterbewegung, nicht träumen lassen. So ist denn die Frage, die der Zeitgeschichtler in seiner knappen Vorbemerkung stellt, rhetorisch. Nämlich, "ob die SPD sich nicht überflüssig macht, wenn sie auf das verzichtet, was sie wesentlich von allen anderen Parteien unterscheidet".

Der Rest des Buchs dient genau dem Nachweis der genannten Voraussetzung, also der ebenfalls evidenten Tatsache, dass die SPD nach und nach auf alles verzichtet, was sie von anderen Parteien unterscheidet. Dass die SPD die bessere CDU sei, ist mehr als ein Wortspiel, und die Kündigung der einstigen Position - wiederum: nicht nur in Deutschland - ist ja auch die Bedingung dafür, dass inzwischen ehemalige kommunistische Parteien diese Position ausfüllen können. Vieles, was Gregor Gysi heute sagt, hätte man vor noch gar nicht so langer Zeit aus dem Munde sozialdemokratischer Politiker zu hören bekommen. Was nicht unbedingt für Gysi, aber gewiss gegen die Sozialdemokratie spricht. Christian v. Ditfurth macht sich munter, leidenschaftlich und mit einer gehörigen Portion Subjektivität an sein Thema heran. Er tut gar nicht erst so, als ginge es ihm nicht unter die Haut. Das wird man ihm - das ist vorauszusehen - vorwerfen. Hätte er sich um mehr Sachlichkeit bemüht, hätte er Objektivität vorgetäuscht, so hätte man sich vermutlich über die Trockenheit der Darstellung, über den Mangel an Engagement beschwert. Für Kritik der vorliegenden Art gibt es stets Immunisierungsstrategien, die nur verschleiern sollen, worum es wirklich geht: um die Verhinderung von Kritik.
Besonders schmerzt den Autor, und nicht nur ihn, der Verlust der Kompetenz für soziale Gerechtigkeit, den Umfragen der SPD Gerhard Schröders mit gutem Grund attestieren. Er ist die Kehrseite der Medaille, die eine Wirtschaftspolitik propagiert, die nach Schröders Worten nicht sozialdemokratisch, sondern nur gut oder schlecht sein kann und in der Praxis vor allem für die Unternehmer gut ist, also nicht eben für die traditionelle sozialdemokratische Klientel.
Als Ausgangspunkt - sozusagen zur Etablierung des Maßstabs - an dem sich die Selbstaufgabe der SPD überprüfen ließe, wählt v. Ditfurth eine differenzierte Darstellung der Positionen Eduard Bernsteins, die gut ein Drittel des Buchs füllt. Ein weiteres Drittel widmet er, immer mit Rückverweisen auf Bernsteins Einflüsse, der Geschichte der 'deutschen Sozialdemokratie bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs. Ein besonders dunkles und wenig bekanntes Kapitel beschäftigt sich mit der Haltung der SPD zu Hitler. Die SPD-Führer, so weiß v. Ditfurth zu berichten, gingen Anfang April 1933 hart gegen eigene Genossen vor, als die Berliner Organisation der Sozialistischen Arbeiterjugend "in die Illegalität übergehen wollte, um den Widerstand gegen das braune Regime zu organisieren". Lapidar fügt er hinzu: "Statt Widerstand gab es eine Anbiederung an die neuen Machthaber." Und er liefert dafür Belege.
SPD-Genossen erbaten von Hermann Göring Reisepässe, mit denen sie dann ins Ausland fuhren, um "ihre europäischen Bruderparteien davon abzuhalten, das NS-Regime allzu hart zu kritisieren". Kaum bekannt dürfte auch sein, dass die SPD im März 1933 aus der Sozialistischen Arbeiter-Internationalen austrat, weil diese zwei Resolutionen gegen die NS-Machthaber ohne Konsultation mit den deutschen Genossen beschlossen hatte. Nur das Verbot der SPD konnte verhindern, dass die in Deutschland verbliebenen Funktionäre der SPD unter Paul Lobe, die sich offiziell von den in die Emigration gegangenen Parteiführern distanzierten und im Reichstag mehrheitlich Hitlers Friedensresolution zustimmten, zu Kollaborateuren der Nazis wurden. In diesem Zusammenhang erscheint die jüngst publik gewordene Tatsache, dass die österreichische Bruderpartei der SPD nach 1945 mit großem Elan ehemalige Nationalsozialisten aufgenommen und deren Vergangenheit verschleiert hat, in neuem Licht.

Eine Kontinuität, die v. Ditfurth zu Recht beklagt, besteht darin, dass die SPD "zu oft das Gegenteil von dem praktizierte, was sie gefordert oder versprochen hatte". In der Weimarer Republik betraf das etwa den Panzerkreuzerbau, nach dem Godesberger Programm die Überführung großer Wirtschaftsgebilde in Gemeineigentum, die Investitionskontrolle, die Unternehmensverfassung für die Großwirtschaft oder die Änderung der ungerechten Einkommens- und Vermögensverteilung. Eingestandenermaßen zugespitzt formuliert v. Ditfurth: "Bis heute trauen sich manche Sozialdemokraten nicht mehr, auf das gültige Parteiprogramm zu verweisen, denn nur Naive können annehmen, dieses sei ernst gemeint und würde die Regierungsarbeit beeinflussen." Und zum Beleg zitiert er aus dem Berliner Programm von 1989, in dem die Rede ist von einer von Klassenschranken befreiten Gesellschaft, vom Abbau von Privilegien und von der Vollendung der Demokratie. Darauf folgt ein Satz, der ungeschützt ausspricht, was immer mehr potenzielle Sympathisanten von der SPD abstößt: "In Wahrheit will die gegenwärtige sozialdemokratische Politik die Reichen noch reicher machen in der Hoffnung, dass dabei Arbeitsplätze entstehen." Dieser Satz ist leider ebenso wahr wie banal. Zu Bernsteins Zeiten und noch vor kurzem hätte er allenfalls die konservativen Gegner charakterisiert. Er ist eines der stärksten Argumente dafür, dass sich die SPD aufgibt.
Dieser Zustand freilich hat eine Vorgeschichte. Er ist das bisherige Ende eines seit langem anhaltenden Prozesses. Mit einer hohen Plausibilität behauptet v. Ditfurth: "Die Grünen besetzten den Platz, den die Schmidt-SPD links frei gemacht hatte. Es gibt in der Politik kein Vakuum, die Nachfrage schafft sich ihr Angebot." Nur sind die Grünen von heute nicht mehr die Grünen aus der Zeit Helmut Schmidts, ist die Regierungspartei Joschka Fischers weit entfernt von der oppositionellen Basisbewegung. Wer heute den Platz besetzen wird, den die SPD und auch die Grünen frei machen, steht noch nicht fest. Es muss nicht unbedingt eine linke Partei sein. Dieses Beispiel vermittelt eine Ahnung, was da in Zukunft drohen könnte. Das österreichische Beispiel ist übrigens auch ein Argument für v. Ditfurths These, dass die meisten Arbeiter nie sozialistisch waren, sondern ihre Partei, die SPD, als ihre politische Interessenvertretung in der bürgerlichen Gesellschaft begriffen. In dem Augenblick, da offensichtlich wird, dass die Sozialdemokratie die Interessen der Arbeiter nicht mehr vertritt, weil sie eben dafür sorgt, dass die Reichen noch reicher werden, kann ein Haider, der genau die Vertretung dieser Interessen verspricht, Zulauf gewinnen, und zwar eben bei jenen Arbeitern, die traditionell sozialdemokratisch wählten.

"Die Schröderisierung ist gleichbedeutend mit dem Verzicht, die Gesellschaft gegen die Interessen der Unternehmer zu verändern", fasst v. Ditfurth zusammen. Und klingt es nicht abenteuerlich, was Gerhard Schröder 1997 erklärte: "Wir werden damit Schluss machen, dass naturwissenschaftliche und technologische Innovationen zunächst auf ihre Risiken abgeklopft werden, ehe man sich ihren Chancen zuwendet." Ähnliche Äußerungen, die bei jeder Aktionärsversammlung von Hoechst oder DaimlerChrysler willkommen wären, kann man freilich auch von sozialdemokratischen Funktionären in anderen Ländern hören. Ein Manko des vorliegenden Buchs ist seine Deutschzentriertheit. Es wäre eine Überlegung wert, inwiefern die beobachtete Entwicklung ein gesamteuropäischer Befund ist. Blair und Schröder haben nicht umsonst gemeinsam ein berüchtigtes Papier verfasst, und der Österreicher Viktor Klima hat den Preis für diese verfehlte Politik bezahlen müssen. Er wird wohl nicht der letzte bleiben.
Thomas Rothschild, Freitag, 30. März 2001; SWR 2 Buchtipp, 23. Mai 2001


Wozu braucht man noch diese Partei?
Christian v. Ditfurth hat die SPD aufgegeben und über seine Gründe ein Buch geschrieben

Er habe eigentlich nie in die SPD eintreten und auch kein Buch über sie schreiben wollen, bekennt Christian v. Ditfurth. Doch beides hat er unternommen. Und das Ende der Geschichte, des Buches? "Warum soll ich weiter Wahlkampf machen für Leute, die zu oft das Gegenteil von dem tun, was ich für sinnvoll halte?"
Die SPD sei für Menschen, deren Maxime Ökologie und soziale Gerechtigkeit ist, längst die falsche Partei. "Das Dilemma ist nur, dass es eine richtige Partei nicht gibt." Auf eigentümliche Weise verbindet der Autor die Analyse wichtiger Entwicklungen in der SPD mit eigenen Erlebnissen und Erkenntnissen.
Am Anfang steht jugendlich-linksradikaler Hass auf die SPD, den "stinkenden Leichnam", die Partei, die sich spätestens mit dem 4. August 1914 selbst verraten hatte. Es war ein Hass, von dem der Autor heute sagt, er sei an den Haaren herbeigezogen gewesen; denn damals hätten er und seine Gesinnungsgenossen so gut wie nichts über die Geschichte der Arbeiterbewegung gewusst.
Dem Einleitungskapitel folgt eine hochinteressante ausführliche Analyse der so genannten Revisionismusdebatte der SPD um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Sie nimmt mehr als ein Drittel des Manuskripts ein, charakterisiert nicht nur anschaulich die Protagonisten der Auseinandersetzung - vor allem Bernstein, Kautsky und Luxemburg -, sondern zeigt sie auch als Keim der späteren drei Strömungen in der SPD, die schließlich zur Spaltung der Partei führten. Der Autor nennt die Revisionismusdebatte eine Debatte über marxistischen oder demokratischen Sozialismus, wobei Bernstein ihm als Begründer des demokratischen Sozialismus gilt.

Scharf kritisiert das Buch die "Sündenfälle" der SPD von der Zustimmung zu den Kriegskrediten 1914 über das Versagen in der Revolution von 1918 bis in die Weimarer Republik und zum Machtantritt der Nazis. Das Godesberger Programm der SPD bezeichnete Carlo Schmidt als Sieg Bernsteins auf der ganzen Linie. Der Autor stimmt dem zu, wendet aber ein, Bernstein sei ein reformistischer Sozialist gewesen, kein Reformpolitiker, wie er der Godesberger Linie entsprochen hätte. Behielt die SPD mit Godesberg ihre sozialdemokratische Identität, "so bedeutet Schröders Kurs die Aufgabe der sozialdemokratischen Identität zugunsten der Unternehmer, als deren geschäftsführender Kanzler Schröder sich sieht". Schröder hat erklärt, es gebe keine sozialdemokratische Wirtschaftspolitik, sondern nur gute oder schlechte. Dem Autor drängt sich die Einsicht auf, für den Bundeskanzler gebe es auch keine sozialdemokratische Außen-, Sicherheits-, Innen- und Justizpolitik mehr. Er fragt: "Wenn es aber keine sozialdemokratische Politik mehr gibt, wozu braucht es dann noch eine sozialdemokratische Partei?"
Merkwürdig kurz werden in dem Buch die politischen Erfolge der Sozialdemokratie, ihr Einfluss auf die gesamte gesellschaftliche Entwicklung des vergangenen Jahrhunderts behandelt. Das mag wohl dem Anliegen des Autors geschuldet sein, die Entwicklung seines Verhältnisses zur SPD zu begründen, nicht so sehr deren Geschichte umfassend zu würdigen. Für Menschen, die sich dem demokratischen Sozialismus verpflichtet haben, gibt Ditfurths Buch manchen Stoff zum Nachdenken. Es fordert geradezu auf, die Auseinandersetzung mit der heutigen SPD weiterzuführen. Doch sollte dies vor allem unter aktuellen Aspekten geschehen, zumal die historische Analyse wichtige Anlässe für die Kritik an der SPD liefert, aber keinen für eine linkssozialistische Selbstgerechtigkeit.

Die  kommunistischen  Parteien  diffamierten im Gegenteil sogar die hellsichtige Kritik Rosa Luxemburgs an der Oktoberrevolution und lehnten die Verbindung von Sozialismus und Demokratie als "revisionistisch" ab. Gerade deshalb muss es die Linke meines Erachtens lernen, bei aller Schärfe der Analyse so zu verfahren, dass sie damit nicht in die alten antisozialdemokratischen Schützengräben zurückkehrt. Dies nicht obwohl, sondern gerade weil offenbar der Weg der SPD in die so genannte Mitte fortgesetzt wird. Trotz ursprünglich gleicher Herkunft wird das Verhältnis zur SPD nicht mehr das verzankter oder verfeindeter Familienangehöriger sein. Das könnte manche emotionale Zuspitzung vermeidbar machen. Zugleich wird das Dilemma noch größer: Mit der SPD gibt es derzeit keine linke Politik. Ohne SPD ist sie nicht mehrheitsfähig.
Ditfurths Buch entlässt uns ratlos: Welche Perspektive sieht der Autor für sich selbst und für den demokratischen Sozialismus? Resigniert er? Immerhin sagt er auch dies: "Wenn sich der Schröder-Kurs ... vollends durchsetzt in der SPD und die PDS sich überzeugend erneuern kann, dann haben die demokratischen Sozialisten Chancen, zur gesamtdeutschen linken Partei heranzuwachsen."
André Brie, Neues Deutschland, 12. April 2001

 

Seitenanfang