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 Christian v. Ditfurth
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Aus Rezensionen
über "Mit Blindheit geschlagen":

"Mehr als einmal fragt sich Stachelmann, ob es nicht besser gewesen wäre, wenn ihn vor Jahren eine anmutige Staublunge heimgeholt hätte. Das aber wäre für ihn und anspruchsvolle Krimileser wie uns ausnehmend schmerzlich gewesen."
Die Welt

"Schnell ist man hierzulande mit Etiketten wie 'der deutsche Mankell' bei der Hand ... Abgesehen davon, dass sich mit dem Ditfurth-Stoff die Nächte ebenso trefflich kürzen lassen, wird man dem Autor damit nicht gerecht. Seine Figur ist unverwechselbar."
Westdeutsche Allgemeine Zeitung

"Ein kenntnisreich erzählter, süffig geschriebener, atmosphärisch starker Kriminalroman"
Deutsche Welle

"Reihum glänzende Kritiken"
Darmstädter Echo

"Mit seinem Stachelmann hat Ditfurth der deutschen Krimiszene einen Charakter geschenkt, der sich hoffentlich oft in den Gespinsten deutscher Vergangenheit verfängt."
Kieler Nachrichten

"Auch in seinem zweiten Stachelmann-Krimi zeigt sich von Ditfurth als einer der besten deutschen Krimiautoren."
Max

"Dieser unfreiwillige Ermittler und sein Autor gehören zum Besten, was die deutsche Krimilandschaft derzeit zu bieten hat."
Nordkurier

"Der muffelige Geschichtsprofessor ist mir irgendwie ans Herz gewachsen."
Brigitte

"Dieser Krimi ist intelligent, mit Rückblenden und Schnitten geschickt aufgebaut und sehr, sehr spannend."
Lübecker Nachrichten

"Was Josef Maria Stachelmann zutage fördert, wirft ein helles Licht auf das, was bisher im Dunkeln blieb."
Badische Zeitung

"Ausgesprochen gut recherchiert, unterhaltsam geschrieben und spannend. ... Das Szenario erscheint erschreckend real."
NDR Info

"Wir lesen, und sofort werden wir in die Handlung gesogen; die Spannung steigt, ... und am Schluss werden alle Fäden entwirrt, logisch überzeugend."
Gießener Allgemeine

"Der wohl sympathischste und glaubwürdigste Ermittler, der derzeit auf dem deutschen Krimimarkt zu haben ist"
amazon.de

"Das Finale ... schreit nach Verfilmung."
Sächsische Zeitung

"Der Krimi fesselt einen so sehr, dass man ihn gar nicht mehr aus der Hand legen möchte."
dpa

"Stachelmanns zweiter Fall ... zeigt: Beim Krimi lohnt Umsteigen auf deutsche Autoren!"
Buchmarkt

"Dieser ungewöhnliche Krimi besticht durch eine exzellente Dramaturgie."
Buchrezensionen online

"Eine spannende und schlüssige ... Geschichte, wie sie nur in Deutschland spielen kann."
Kölner Stadtanzeiger

"Ein böses Sittengemälde aus Deutschland."
Der Standard (Wien)

"Beklemmendes historisches Kolorit"
Zofinger Tagblatt
/ Mittelland-Zeitung (Schweiz)

 Rezensionen

 

Aus Rezensionen
über "Mann ohne Makel":

"Ein packender Krimi, der zeigt, dass deutsche Autoren mit deutschen Themen bestens gegen internationale Konkurrenz bestehen können."
Focus

"Ein erstklassiger Roman"
Brigitte

"Ein höchst intelligenter, spannender und lesenswerter Krimi"
WDR 4 Radio

"Wünscht man sich also noch mehr Fälle für Josef Maria Stachelmann."
Die Welt

"Wallander ... hinterlässt eine schmerzende Lücke bei Krimilesern. Vielleicht aber gibt es Trost. Der kommt aus Hamburg, heißt Josef Maria Stachelmann und ist Historiker."
NDR Fernsehen

"Vielleicht macht gerade diese Mischung aus Menschen- und Geschichtskenntnis das Buch vom 'Mann ohne Makel' so unterhaltsam und spannend zugleich."
WDR 2 Radio

"Virtuos verwebt"
Südkurier

"Ein deutscher Thriller vom Feinsten"
Wilhelmshavener Zeitung

"Superspannend"
Rheinische Post

"Deutschlands Antwort auf Henning Mankell"
playboy

"Eine packende Geschichte!"
Hamburger Abendblatt

"Lässt ... auf weitere Ermittlungen dieses auf sympathische Weise zerknitterten Historikers in der Rolle des Amateurdetektivs hoffen."
NDR Radio 3

"Hohes Suchtpotential"
Saarbrücker Zeitung

"Spannende Krimi-Geschichte"
Hannoversche Allgemeine

"Grausam genug, dass das spannend sein kann"
Badische Zeitung

"Angenehm ist es, im Leben oder im Buch einen Menschen zu finden, den man auf Anhieb sowohl interessant als auch sympathisch findet."
Sächsische Zeitung

"Mit dem stets vom privaten und beruflichen Scheitern bedrohten Uni-Dozenten (...) besetzt von Ditfurth eine vakante Stelle unter den literarischen Ermittlern."
Nordkurier

"Der erste Krimi überhaupt mit einem Historiker als Detektiv"
Lübecker Nachrichten

"Kunststück bravourös gelungen"
dpa

"Einen Stachelmann erfindet man schließlich nicht alle Tage."
Kölner Stadt-Anzeiger

"Makellos spannendes Werk"
Hersfelder Zeitung

"Es ist eines dieser seltenen Bücher, bei denen man nicht nur gut unterhalten wird, sondern auch noch viel Geschichtswissen vermittelt bekommt."
Pforzheimer Zeitung

"Eine wirklich neuartige Figur in der Krimiwelt"
P. S.

"Vermag die Lektüre ums bittere Erbe der Naziväter angenehm leichtgängig zu unterhalten"
Bremer

"Unnachahmlich"
Buchmarkt

 Rezensionen

 

 

Verbogene Lebensläufe
Das ostdeutsche Erbe der FDP

 

Otto Graf Lambsdorff war sich da ganz sicher: "Für geschulte Ohren waren die leisen Zwischentöne und ironischen Bemerkungen deutlich vernehmbar."
Der damalige FDP-Chef entschuldigte so eine Rede, die Bundesbildungsminister Rainer Ortleb am 3. März 1977 als Delegierter auf dem 12. Parteitag der DDR-Blockpartei LDPD in Weimar gehalten hatte (Spiegel 46/1991). Der rhetorische Erguß des heutigen stellvertretenden Vorsitzenden der Liberalen war in der Tat von solcher Militanz, daß ein Leser unserer Tage kaum glauben mag, daß Ortleb meinte, was er sagte.
Zum Frühstück hatte er sich laut Speiseplan mit Geußener Salami, Schnittkäse und einem gekochten Ei für seinen Auftritt stärken können (Friedrich-Naumann-Stiftung, Archiv des Deutschen Liberalismus, Bestand LDPD – künftig ADL LDPD – 25869). Für den Vormittag vermerkte der detaillierte Diskussions-Ablaufplan der Parteiführung dann einen Höhepunkt, der auf keiner Versammlung einer DDR-Partei fehlen durfte: die Lobpreisung der bewaffneten Organe des SED-Staats, der Nationalen Volksarmee (NVA) und der Grenztruppen, die aufpaßten, daß kein Bürger aus Honeckers eingezäuntem Arbeiterparadies den Verlockungen des Imperialismus erlag und das Weite suchte.
Bevor eine NVA-Ehrenformation mit klingendem Spiel einmarschierte, mußte der Parteitag auf das martialische Ereignis eingestimmt werden. Diese Aufgabe übernahm in Uniform der Delegierte Dr. Rainer Ortleb, wissenschaftlicher Oberassistent an der Technischen Universität Dresden und Leutnant der Reserve:

"Mein Diskussionsbeitrag beginnt nicht mit dem ersten gesprochenen Wort, sondern mein erstes Argument ist, für jeden sichtbar, die Uniform, die ich heute trage. Der Minister für Nationale Verteidigung, Armeegeneral Heinz Hoffmann, formulierte 1961 vor der Volkskammer in der Begründung des Gesetzes über die Verteidigung der Deutschen Demokratischen Republik: In unserem Arbeiter-und-Bauern-Staat ist der Waffendienst höchste Ehre und patriotische Pflicht jedes Staatsbürgers. Brüderlich vereint in der Nationalen Front, haben wir unter Führung der Partei der Arbeiterklasse eine verteidigungswürdige Gesellschaftsordnung und Staatsmacht geschaffen. Es gibt keine gerechtere Sache, als in der einzig rechtmäßigen, wahrhaft nationalen Armee des Volkes unsere sozialistischen Errungenschaften mit der Waffe in der Hand zu schützen.'"

Ortleb beließ es nicht bei der pathetischen Treuebekundung, sondern ihm kam es vor allem darauf an, zur Wachsamkeit gegenüber dem Klassenfeind aufzurufen und die "sozialistische Wehrerziehung" zu rechtfertigen, deren Aufgabe es war, das unter der Entspannungspolitik heftig leidende Feindbild zu bekräftigen. Der Reserveleutnant konnte sich dabei auf eigene Erfahrungen stützen:

"Seit mehreren Jahren leite ich ein Reservistenkollektiv an der Technischen Universität Dresden. Neben der aus der Reservistenordnung erwachsenden Verpflichtung eines jeden Reservisten, sich ständig politisch und militärisch zu qualifizieren, seine Kampfbereitschaft zu erhalten, ergeben sich darüber hinaus für an einer Hochschule Tätige spezifische, aus unserer Erzieherfunktion heraus begründete Aufgaben.
Ähnlich ist es für viele unserer Parteifreunde Lehrer, Lehrlinge, ausbildende Handwerksmeister, Leiter volkseigener Betriebe, ja für uns alle, die wir Kinder zu erziehen haben. Gerade hier im Erziehungsfeld wird in der Diskussion mit jungen Menschen ein Problem, das auch älteren nicht fremd ist, deutlich. Die Notwendigkeit des Schutzes unserer sozialistischen Gesellschaftsordnung und unsere internationalistische Pflicht zur Stärkung des Warschauer Verteidigungspaktes wird theoretisch verstanden und bejaht. Jawohl, und unsere Nationale Volksarmee ist fest verbunden mit der Sowjetarmee und den Staaten der Bruderländer, und das sage ich hier ganz bewußt vor dem 60. Jahrestag der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution. 'Auf den Frieden richtet sich die Sorge der jungen Sowjetmacht vom ersten Tage an', heißt es im Aufruf zum 60. Jahrestag. Diese Friedenspolitik ist zunehmend erfolgreich. Die praktische Pflege und Qualifizierung von militärischen Kenntnissen und Fähigkeiten erscheint daher manch einem als Widerspruch zur Entspannungspolitik. Das ist aber gar kein Widerspruch, sondern ein logischer Zusammenhang. Hier müssen wir den Blick dafür schärfen, daß politische Entspannung nicht automatisch militärische Entspannung zur Folge hat. (...)
Wir haben keinen Zweifel an der Verteidigungswürdigkeit unseres Staates, den wir mittragen, und die Konsequenz, die Kriegskunst zu trainieren, wird uns täglich von der imperialistischen Tat aufgezwungen.
Ein Soldat hat gelernt, eine Meldung knapp und exakt zu formulieren, nach der Regel: Wer – was -wo – wann.
Wer – wir Liberaldemokraten. Was – bereit zur Verteidigung unseres Staates. Wo und wann – hier, zu jeder Zeit."

Das Parteitagsprotokoll hält fest: "langanhaltender Beifall" (ADL LDPD 25870a).
Wo in dieser Rede Zwischentöne zu hören sein sollen, wird Graf Lambsdorffs Geheimnis bleiben. Mag sein, daß er sich bei seiner Textexegese nicht allein von dem taktischen Motiv leiten ließ, die ostdeutsche Mitgliedschaft nicht zu verärgern, deren zahlenmäßiges Übergewicht gegenüber den westdeutschen Liberalen zu der Vermutung verleiten kann, die FDP-Führung sei eine Geisel von einstigen Blockflöten. Mag aber auch sein, daß Lambsdorff den rednerischen Stechschritt seines neu gewonnenen Parteifreunds nicht in Übereinstimmung bringen konnte mit den Angaben, die Rainer Ortleb der Öffentlichkeit über seinen DDR-Lebenslauf präsentiert hat.
Denn die offizielle Vita des Bundesbildungsministers strotzt vor Harmlosigkeit. 1968 sei Ortleb, "seinem Elternhaus verpflichtet", der Liberal-Demokratischen Partei Deutschlands beigetreten. Diese habe die Möglichkeit geboten, der SED-Mitgliedschaft "auszuweichen und notfalls selber denken zu dürfen". Als engagiertes Parteimitglied habe er 1987 den Vorsitz des Rostocker LDPD-Kreisverbands übernommen, und Mitglied des dortigen Bezirksvorstands sei er auch geworden. Sein langjähriges Mittun in einer mit der SED befreundeten Partei begründet er mit dem Argument, er habe sehen wollen, was sich im Sinne liberaler Ideen bewegen lasse. "Der Spielraum sei winzig und der Zwang zu Kompromissen groß gewesen", zitiert der Autobiograph sich selbst, der sich zudem als eine "Persönlichkeit mit Narben" vorstellt.
Mehr hat der Computerfachmann in seiner dreiseitigen Vita nicht vermerkt über sein politisches Dasein vor der Wende. Das ist aber nur ein Bruchteil der Wahrheit – so wenig, so verbogen und so willkürlich zusammengestrickt, daß es einer Lebenslüge gleichkommt.
Wie denn überhaupt das selektive Erinnerungsvermögen die wichtigste Fähigkeit jener zahlreichen FDP-Funktionäre darstellt, die sich durch ihre einstige Honecker-Ergebenheit nicht darin behindern lassen, heute wieder Ämter und Funktionen zu besetzen.
Im Fall des Rainer Ortleb hat die absichtsvolle Vergeßlichkeit groteske Ausmaße erreicht. Seine Funktionärskarriere hat in Wirklichkeit schon Anfang der siebziger Jahre begonnen und nicht erst kurz vor dem Zusammenbruch des SED-Staats. Im November 1976, wenige Monate vor seinem denkwürdigen Parteitagsauftritt in Weimar, war Ortleb Mitglied des Bezirksvorstands Dresden der LDPD geworden, nachdem er zuvor bereits als Nachfolgekandidat für dieses Leitungsgremium aufgeführt war. (ADL LDPD 27919a) Gleichzeitig rückte er in dessen neunköpfiges Sekretariat auf und gehörte damit zum engsten Führungszirkel der Dresdner Liberaldemokraten. (ADL LDPD 33210)
Vier Jahre später wurde der NVA-begeisterte Akademiker einstimmig wieder in den Bezirksvorstand gewählt. In einer Entschließung versprachen Rainer Ortleb und die weiteren 249 Teilnehmer der Bezirksdelegiertenkonferenz, "daß sie auch weiterhin mit Leidenschaft und Tatkraft das Unsere zur umfassenden Verwirklichung der vom IX. Parteitag der SED festgelegten bewährten Strategie der Innen- und Außenpolitik unseres Landes leisten" (ADL LDPD 27920). Zur selben Zeit wurde Ortleb Vorsitzender des LDPD-Stadtbezirksvorstands Dresden-Süd.
Keine seiner Funktionen hätte Ortleb bekleiden können ohne Zustimmung der stets mißtrauischen SED. Der geringste Zweifel an der Sozialismusbegeisterung des Kandidaten hätte genügt für einen nachhaltigen Karriereknick.
Für solcherlei Befürchtungen aber bot die wehrfreudige Blockflöte nicht den geringsten Anlaß. Der Diplom-Mathematiker erkundete keine Spielräume, erforschte nicht, was sich bewegen ließ, wie er später behaupten wird, sondern sammelte Fleißkärtchen der SED und seiner Oberen in Berlin. Im Mandatsprüfungsbogen für den Weimarer Parteitag nennt er als Auszeichnungen: "Lohrmann-Me-daille der TU", "Kollektiv der sozialistischen Arbeit", "Kollektiv der GDSF (Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft; C. D.)", "Ehrennadel und -Urkunde der LDPD" (ADL LDPD 25812).
Die Sekretäre der Dresdner Liberaldemokraten waren nicht weniger über jeden Demokratieverdacht erhaben als andere Spitzenfunktionäre der vier DDR-Blockparteien. Immer wieder drängte es sie, den Einheitssozialisten ihre Freundschaft zu bekunden. So zum Beispiel in einem Schreiben an SED-Bezirkschef Hans Modrow, dem sie im Februar 1981 "herzlichste Grüße" übermittelten. Und:

"Wir versichern Sie, daß die Liberaldemokraten des Bezirksverbandes Dresden als treue Bündnispartner der Arbeiterklasse und der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands neue Anstrengungen unternehmen und Initiativen fördern werden, um auch weiterhin konstruktiv mitzuhelfen, die Leistungen des Bezirks Dresden in Vorbereitung auf den X. Parteitag der SED zu erhöhen." (ADL LDPD 33212)

Ende der siebziger Jahre hatte die Entspannungspolitik das verordnete Feindbild unschärfer werden lassen, erste Oppositionsstimmen wurden laut. Der Liedermacher Wolf Biermann wurde, weil er sich nicht einschüchtern ließ, kurzerhand ausgebürgt, sein Freund Robert Havemann, den die Nazis einst zum Tod verurteilt hatten, wurde von der Stasi fast völlig von der Außenwelt abgeschnitten. Die auf dem VIII. Parteitag der SED im Juni 1971 beschlossene Strategie der "Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik" – kurz "Hauptaufgabe" genannt – begann an die Grenzen der mangelnden Leistungsfähigkeit der DDR-Wirtschaft zu stoßen, nachdem sie der Bevölkerung, besonders den Frauen, einige soziale Erleichterungen verschafft hatte. Das kurze Zwischenhoch der Nach-Ulbricht-Ära ging zu Ende, die SED des Erich Honecker zog die Zügel wieder an.
Und die Blockparteien zogen mit, nicht allein durch militärbegeisterte Reden auf Parteitagen. Schon auf einer der ersten Zusammenkünfte des neu gewählten Sekretariats mußte Rainer Ortleb erkennen, daß die Mauer auch in den Büros der Dresdner LDPD stand. Im Protokoll der Sitzung vom 17. Dezember 1976 wird festgestellt:

"Das SdBV (Sekretariat des Bezirksvorstands; C. D.) bestätigt den Antrag des KV (Kreisvorstands; C. D.) Riesa, Herrn Horst Müller (Name geändert; C. D.) aus der LDPD auszuschließen. Herr Müller hat Antrag auf Ausreise in die BRD gestellt und gehört zu den Unterzeichnern der Petition, die westlichen Dienststellen und Massenmedien übermittelt wurde. Das SdBV beschließt den Ausschluß."

Im Juli 1977 wurde Heiner Otto (Name geändert) aus der Partei geworfen. Die Dresdner Bezirkssekretäre betrachteten es als LDPD-unwürdig, daß "dieser versucht hatte, sich und seine Familie aus der DDR auszuschleusen". Um dem realsozialistischen Rechtsempfinden Genüge zu tun, wurde "Herr Otto zu 18 Monaten Freiheitsentzug verurteilt". (ADL LDPD 33208)
Das gleiche Schicksal traf Werner Binder (Name geändert), der wegen "unerlaubtem Grenzübertritt" zu einem Jahr und zehn Monaten Freiheitsstrafe verurteilt worden war. "Herr Binder befindet sich zur Zeit zur Verbüßung seiner Freiheitsstrafe im Straflager Cottbus", erklärt das Protokoll. (ADL LDPD 33210)
Die Sekretäre des Bezirksvorstands Dresden ließen nicht nach in ihrem Bemühen, ihre Parteifreunde auf Vordermann zu bringen. Rainer Ortleb forderte im März 1978 im Bezirksvorstand seiner Partei "die Durchsetzung des Kaderbeschlusses der Partei" (ADL LDPD 33205) und sein Chef, Siegfried von Jagow, einige Wochen später "die Verstärkung der politisch-ideologischen Arbeit und die konsequente Erziehung der Kader der Partei", um deren "kämpferische Einstellung" zu verbessern (ADL LDPD 33208).
Rainer Ortleb allerdings verlegt seinen Kampfplatz und seine Suche nach Spielräumen in den hohen Norden der DDR, nach Rostock. Im Februar 1983 verabschieden ihn seine Dresdner Parteifreunde mit Dank und guten Wünschen in die Hafenstadt, wo er, inzwischen zum Dr. rer. nat promoviert, seine Hochschullaufbahn an der Sektion Informatik der Wilhelm-Pieck-Universität fortsetzen will (ADL LDPD 33210) – mit Erfolg, wie vorausgeschickt sei: Im September 1989 wird er zum außerordentlichen Professor berufen.
Die Liberaldemokraten an der Ostseeküste nehmen den bewährten Altkader mit offenen Armen auf. Bald schon ist er stellvertretender Vorsitzender im wichtigsten Kreis des Bezirks, Rostock-Stadt, und er läßt keinen Zweifel daran, daß er sich in seiner Linientreue auch weiterhin nicht würde übertreffen lassen.
Im Februar 1985 erhält er den ehrenvollen Auftrag, das Referat in einer erweiterten Kreisvorstandssitzung zu halten. Er nutzt diese Gelegenheit, um dafür einzutreten, daß "den kriegstreiberischen Aktionen des Imperialismus ein für allemal Grenzen gesetzt werden". Das Jahr 1984, "das erfolgreichste in der 35jährigen Geschichte unserer Republik", habe "uns bei der weiteren Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft gut vorangebracht".
Und immer noch weiß er ganz genau, was der Auftrag von Blockflöten im Honecker-Staat ist:

"Wir Liberaldemokraten bekunden nachdrücklich unsere Zustimmung zu den Beschlüssen der 9. Tagung des ZK der SED, mit denen auch unseren Parteimitgliedern Weg und Ziel unserer dem Frieden verpflichteten Arbeit gewiesen wurde. Es ist uns ein Bedürfnis, nicht nur deklarativ aus der Position des Zaungastes, sondern im Rahmen der umfassenden Volksaussprache eigenschöpferisch mit Ideen, vor allem aber mit gewichtigen Taten, zur Vorbereitung des XI. Parteitages der SED mit beizutragen."

Von seinen Parteifreunden verlangt er, "mit Engagement alles zu tun, um die historische Überlegenheit des Sozialismus jeden Tag mit wachsendem ökonomischem und sozialem Ergebnis unter Beweis zu stellen".
Nur wenige Monate später ergreift Ortleb erneut das Wort im Rostocker Kreisvorstand der LDPD, wo er "mit Stolz" hervorhebt, "daß unsere Geschichte stets mit dem Werden und Wachsen unserer sozialistischen Republik verbunden war und ist". Nach 1945 habe die LDPD die Lehren aus der Nazidiktatur gezogen, und "in der Gemeinschaft aller Demokraten" mitgeholfen,

"die Herrschaft der Monopolherren und Junker ein für allemal zu beseitigen. Daran wurde und blieb die politische Grundlinie unserer Partei bestimmt, und alle Versuche reaktionärer Elemente, sie zu verfälschen – und deren gab es nicht wenige – scheiterten. Im Kampf um die antifaschistischdemokratische Erneuerung der Nation und in der entschlossenen Abwehr der imperialistischen Restauration sind viele Liberaldemokraten über sich selbst hinausgewachsen und zu ehrlichen Verbündeten der Arbeiterklasse geworden und haben in den 36 Jahren des Bestehens unserer Republik ihren persönlichen Beitrag für den Aufbau dieser neuen Gesellschaft geleistet."

Dann lobt er den Friedenskampf der kommunistischen Weltbewegung und verspricht:

"Mit Blick auf den XI. Parteitag der SED und in Vorbereitung unseres 14. Parteitages im April 1987 werden auch unsere Parteifreunde hohe Leistungen vollbringen, um uns würdig in die große Volksbewegung zur weiteren wirtschaftlichen Stärkung unserer Republik einzureihen." (ADL LDPD 31613)

Es bleibt Kundigen wie Graf Lambsdorff vorbehalten, in diesen und anderen Reden des Rainer Ortleb Zwischentöne zu erspähen. Die Kaderplaner im Sekretariat des Zentralvorstands der LDPD in Ost-Berlin jedenfalls hörten nichts von der SED-Linie Abweichendes, und Ortlebs Politkarriere ging flott voran.
Zumal sich der verdiente Funktionär wieder auf einem Gebiet bewährte, auf dem er ganz am Anfang seiner Laufbahn schon geglänzt hatte. Um "die Kollektivität der Parteiarbeit auszuprägen, alle Parteifreunde mit unserer politischen Arbeit zu erreichen und die gesamtgesellschaftliche Verantwortung als staatstragende Partei umfassender wahrzunehmen", beschloß das Sekretariat des Rostocker Kreisvorstands, Arbeitsgruppen und Kommissionen zu bestimmten Themen zu bilden. Leiter der "Arbeitsgruppe Wehrerziehung" wurde Rainer Ortleb. (ADL LDPD 31613)
Das Soldatenspiel der Schüler mit Handgranatenwurf im Gelände und die Beschwörung des imperialistischen Aggressors jenseits der Mauer in den Klassenzimmern gehörten zu den widerwärtigsten Häßlichkeiten des realen Sozialismus. Viele Bürger der DDR hielten es zu Recht für pervers, Kinder und Jugendliche zum Haß und zum Töten zu erziehen, für die Kirchen war es einer der großen Steine des Anstoßes. Aus den unzähligen Informationsberichten, die von der Stimmung an der LDPD-Basis zeugen, wird deutlich, daß auch manche Liberaldemokraten keineswegs beglückt waren von der Militärpädagogik, der ihre Kinder ausgesetzt wurden.
Aber Rainer Ortleb war gewiß der richtige Mann in der richtigen Funktion, um derlei moralische Skrupel wenigstens zum Teil zu zerstreuen.
Er bewährte sich auch auf diesem Kampfplatz und wurde im Oktober 1986 zum neuen Rostocker Kreischef gewählt und kurz darauf auf einen Sonderlehrgang für Kreisvorsitzende an die Zentrale Parteischule "Wilhelm Külz" delegiert. Bald war er auch wieder im Bezirksvorstand und dessen Sekretariat. (ADL LDPD 33862)
Er pflegte die Zusammenarbeit mit der "Partei der Arbeiterklasse", wie es sich für einen Blockparteifunktionär geziemte. Im Juli 1989 etwa tagte der Demokratische Block der Stadt Rostock, der Zusammenschluß der DDR-Parteien unter Führung der Einheitssozialisten, und beriet "über die weitere gemeinsame Arbeit bei der allseitigen Vorbereitung des XII. Parteitages der SED." Wie die anderen Sitzungsteilnehmer brachte Ortleb wunschgemäß "seine feste Entschlossenheit zum Ausdruck, auch künftig unter Führung der Partei der Arbeiterklasse und im vertrauensvollen Miteinander die bewährte Politik zum Wohle des Volkes tagtäglich mit hohen Leistungen zu unterstützen und so den 40. Jahrestag der Gründung der DDR würdig vorzubereiten". Eine handschriftliche Notiz auf diesem Dokument besagt, daß er dafür sorgte, daß diese Erklärung an die Presse ging. (ADL LDPD 33865)
Da hatte schon längst die Fluchtwelle begonnen, hatten Bürger der DDR die bundesdeutschen Botschaften in der CSSR und Ungarn sowie die Ständige Vertretung Bonns in Ost-Berlin besetzt, um ihre Ausreise zu erzwingen. Bereits im März waren 600 Menschen, denen die Hoffnung auf die Reformwilligkeit und -fähigkeit ihrer in spätstalinistischer Orthodoxie verkalkten Führungsriege um den Dachdeckergehilfen aus Neunkirchen (Saar) abhanden gekommen war, in Leipzig dafür auf die Straße gegangen, sie aus der DDR-Zwangsbürgerschaft zu entlassen. Im Mai zählten Bürgerrechtler bei den Kommunalwahlen mutig mit bei der Stimmauszählung und bewiesen, daß die SED kräftig nachgeholfen hatte zugunsten der einzig zugelassenen Liste der Nationalen Front. Die Tatsache, daß sie bei den ohnehin undemokratischen "Volkswahlen" betrogen hatten, kosteten Honecker & Co. den letzten Rest an Glaubwürdigkeit.
Einige Getreue aber halfen weiter mit, die SED-Führung in dem Irrglauben zu wiegen, der Arbeiter-und-Bauern-Staat wachse und gedeihe ganz nach dem Honecker-Motto: "Den Sozialismus in seinem Lauf hält weder Ochs noch Esel auf." Das waren neben den an pathologischer Realitätsver-kennung leidenden Spitzenfunktionären der "Partei der Arbeiterklasse" vor allem die Blockflöten in CDU, DBD, NDPD und LDPD, die nach der Wende behaupten werden, den Sturz der Diktatur mit herbeigeführt zu haben.
Zu diesen nach wie vor unerschütterlichen Feinden des Imperialismus zählt Rainer Ortleb, die von einer autobiographischen Dreiviertelamnesie heimgesuchte "Persönlichkeit mit Narben".
Am 10. Oktober 1989 besucht der Sekretär des Rostocker Bezirksvorstands zusammen mit seinen Kollegen Ost-Berlin. Auf einer Sitzung des Sekretariats des Zentralvorstands informieren sie ihre übergeordnete Leitung über die Lage in ihrer Parteiorganisation. Schon am 20. September hatten sie einen schriftlichen Bericht als Diskussionsgrundlage diskutiert und verabschiedet und sich zuvor auch mit der Bezirksleitung der SED über dessen Inhalt abgestimmt. Während die DDR sich vor aller Augen auflöst, erklären Ortleb und seine Parteifreunde, "daß das Bekenntnis der Mitgliedschaft zur Wesenseinheit von Frieden, Sozialismus und Humanismus überwiegt". Sie notieren des weiteren, daß angesichts der Nationalitätenkonflikte im Sowjetreich eine gewisse Ernüchterung eingetreten sei über Perestrojka und Glasnost. Die Diskussionsfreudigkeit in der Mitgliedschaft, auch über Grundsätze des Marxismus-Leninismus, nehme zu. Die Sekretäre beklagen, daß die Jugendlichen die soziale Sicherheit, die die DDR ihnen gewähre, als Selbstverständlichkeit betrachteten und sich zunehmend an der Bundesrepublik orientierten. Weiter berichten Ortleb und Kollegen:

"Ratlos und betroffen stehen unsere Parteifreunde vor der um sich greifenden Ausreisewelle ~ von vor allem jungen DDR-Bürgern – in die BRD. Einerseits stoßen westliche Diffamierungen und damit verbundene 'großdeutsche' Absichtserklärungen auf Ablehnung bei den Mitgliedern, andererseits wird aber die Forderung nach öffentlicher Verständigung über die Ursache für diese 'Abkehrwelle' drängender und ungeduldiger."

Außerdem wissen die Sekretäre aus Rostock zu berichten, daß der Unmut über Versorgungsengpäße wachse und daß zahlreiche Parteifreunde "bei der Weiterentwicklung der ökonomischen Basis des Sozialismus in der DDR und an der Ausgestaltung der sozialistischen Demokratie mithelfen (...) wollen". Und: "Parteifreunde verweisen mit wachsendem Selbstbewußtsein darauf, daß es auf Bezirks- und Kreisebene eine gute und kameradschaftliche Zusammenarbeit mit der Partei der Arbeiterklasse gibt (...)."
Ihr Hauptaugenmerk richten die Liberal-Demokraten aus dem Norden nach wie vor auf ihren "Bündnisbeitrag zum Wirtschaftswachstum", die nun schon trostlos schwierige Mithilfe bei der Verwirklichung der "Hauptaufgabe". Gleich zweimal wird Rainer Ortleb in diesem Zusammenhang im Bericht des Rostocker Sekretariats an den Ost-Berliner Zentralvorstand lobend erwähnt. Obwohl einige Parteifreunde keine "Bündnisbeiträge" mehr leisten wollten, sei der Bezirksverband

"mit gewichtigen Leistungen an der Vorbereitung des 40. Jahrestages unserer Republik beteiligt. Parteifreund Prof. Dr. Ortleb betreute zur Leipziger Herbstmesse 1989 auf dem Messestand 'Universitäten und Hochschulen der DDR' als Exponatverantwortlicher das Personalcomputer-Programmiersystem TINA. (...) Er sieht in der Mitwirkung bei der Erschließung des Systems TINA für die Praxis bis zum Lizenzangebot seinen 'Bündnisbeitrag zum Wirtschaftswachstum'."

Der gerechte Lohn für gesellschaftspolitisches Engagement und fachliche Leistung sollte Ortleb nicht vorenthalten bleiben:

"Das Gespräch zu Fragen der Bündnispolitik und der Mitverantwortung der LDPD bei der Gestaltung des geistigen und politischen Lebens im Universitätsbereich mit dem Parteisekretär der SED der Wilhelm-Pieck-Universität im Vorfeld der Kommunalwahlen war (...) nützlich. Diese und andere Aktivitäten machen deutlich, daß sich unsere Parteifreunde dem Anspruch politischer und fachlicher Verantwortung stellen (...). Die Berufung von Parteifreund Dr. Ortleb zum a. o. Professor am 7. 9. 1989 betrachten wir als Anerkennung des liberaldemokratischen Engagements auf diesem Gebiet."

Schließlich versprechen die Rostocker Sekretäre:

"Ziel der Leitungstätigkeit zur innerparteilichen Festigung und der kaderpolitischen Arbeit ist und bleibt die Ausprägung von Überzeugungen und Haltungen eines sozialistischen Staatsbürgers bei allen unseren Mitgliedern." (ADL LDPD 31713)

Bleibt im Fall Ortleb noch eine Frage offen: Von wem will der Blockflötenprofessor die Wunden erhalten haben, die bekanntlich Narben vorausgehen? Ist es nicht in Wahrheit so, daß er anderen Wunden schlug und später in Anlehnung an die Kohlsche Rammbockfehlleistung Opfer und Täter verwechselte? Vielleicht, so sei zu seinen Gunsten angenommen, bereitet es ihm inzwischen Schmerzen, sich der eigenen Vergangenheit zu stellen? Und möglicherweise sind die Schmerzen so stark, daß sie den Mut zur autobiographischen Wahrheit ersticken?
Er und die meisten anderen Funktionäre der LDPD haben dem SED-Regime gedient bis fünf nach Zwölf. Aber noch heute grenzen sich Liberal-Demokraten ab von den anderen Blockparteien und behaupten, eine Politik der begrenzten Opposition verfolgt zu haben.
In der Tat zeigte sich beispielsweise LDPD-Chef Manfred Gerlach hin und wieder "bockig", wie es im ZK-Jargon hieß. Vor allem dann, wenn er glaubte, daß seine Partei gegenüber den anderen benachteiligt zu werden drohte. Und nicht zuletzt hatte Gerlach sich teilweise die Fähigkeit erhalten, selbständig zu denken und die Realität zumindest ausschnittsweise wahrzunehmen, was ausreichte, um ihn in der Garde sich pausenlos selbst beweihräuchernder Spitzenleute des SED-Staats zur Ausnahmeerscheinung zu machen. Verstärkt wurde dieser Eindruck, wenn man sein Verhalten verglich mit der geradezu abschreckenden Devotion der anderen Blockparteichefs, rückgratlose Opportunisten allesamt, deren Gehorsam gegenüber der SED-Führung im Wettlauf vorauseilte. Für solch triefendes Pathos war Gerlach zu intelligent und zu eitel. Aber er war fest davon überzeugt, mit dem realen Sozialismus und der SED aufs richtige Pferd gesetzt zu haben.
Der letzte Staatsratsvorsitzende der DDR und das heutige Mitglied der FDP hat sich nachträglich zu seiner Mitverantwortung immerhin teilweise bekannt in einem zeitgeschichtlich wichtigen Memoirenband (Manfred Gerlach, Mitverantwortlicher. Als Liberaler im SED-Staat, Morgenbuch Verlag, Berlin 1991). "Ich war weder ein Held noch ein Widerstandskämpfer gegen das SED-Regime", schreibt er und stellt sich damit in Gegensatz zu einigen seiner Vorwendeparteifreunde, die heute in der LDPD nachträglich einen Hort der Perestrojka entdecken wollen.
Tatsächlich können kritische Äußerungen des LDPD-Chefs und kontroverse Diskussionen in manchen Versammlungen nicht darüber hinwegtäuschen, daß Interessierte aus offensichtlichen Gründen heutzutage mehr darin hineininterpretieren, als die Wirklichkeit hergibt.
So referierte der LDPD-Vorsitzende etwa im September 1988 im Politischen Ausschuß – dem Parteipräsidium – laut dem erhalten geblieben Redemanuskript durchaus über Gebrechen des Sozialismus und forderte eine "nüchterne Betrachtung der Dinge, im Unterschied zur offiziellen Erfolgspropaganda". Aber: "Öffentliches Nachdenken ist nicht Widerstand oder Opposition." Er verwahrte sich im innersten Führungszirkel der Partei scharf gegen die "politischen Attacken" und die "ideologische Diversion des Westens" und erklärte unzweideutig: "Wir (...) dulden keine geistig-politische Koexistenz".
So zuwider ihm die barocken rhetorischen Devotionalien seiner Blockparteikonkurrenten waren, Gerlach war bis zum Ende der deutschdemokratischen Herrlichkeit überzeugt von der Notwendigkeit, das Bündnis mit der SED fortzuführen. Er hatte keinen Zweifel daran, daß die Arbeiterklasse die fuhrende Kraft bleiben müsse und der Partei, die die Arbeiter zu vertreten vorgab, das letzte Wort im Staat zustehe.Folgerichtig formulierte er "fünf unverrückbare Grundsätze" der LDPD-Politik:

  1. Die LDPD erkennt die fuhrende Rolle der SED an – "aus Erfahrung, aus historischen Gründen, aus Einsicht in gesellschaftliche Gesetzmäßigkeiten und mit Blick auf die Perspektive unseres Volkes".
  2. "Die LDPD trägt die Arbeiter-und-Bauern-Macht mit, die Alternative zur Herrschaft der Bourgeosie auf deutschem Boden."
  3. Die LDPD leiste "auf eigenständige Weise" einen "höchstmöglichen Beitrag" zur Entwicklung des DDR-Sozialismus.
  4. Die "LDPD vertieft sozialistische Grundüberzeugungen und Liebe zum sozialistischen Vaterland".
  5. Die "LDPD geht davon aus, daß die 'deutsche Frage' politisch entschieden ist. Die DDR verkörpert alles Fortschrittliche in der deutschen Geschichte und nationale Zukunft". (ADL LDPD31335)

So gewiß Gerlach und anderen LDPD-Funktionären manche grotesken Auswüchse der SED-Vergötterung fremd waren, so gewiß haben sie den Arbeiter-und-Bauern-Staat noch verteidigt, als immer mehr Bürger protestierend auf die Straßen gingen oder resigniert ausreisten.
Es war den meisten Liberal-Demokraten ein Bedürfnis, Mitverantwortung zu tragen im Regime – in allen Parteidokumenten ist davon immer wieder die Rede.
Angesichts dieser detailliert zu belegenden Tatsache ist es erstaunlich, daß etwa der Kölner Historiker und Journalist Peter Joachim Läpp als Sachverständiger in einer öffentlichen Anhörung der Enquete-Kommission des Bundestags zur Aufarbeitung der Geschichte der SED-Diktatur die Blockparteien von einer Mitschuld weitgehend entlastete. Deren Mitglieder hätten meist nur "in der zweiten Reihe" Verantwortung übernommen. Sie seien "überall die klassischen Anwärter für Stellvertreter-Positionen" gewesen, "die Leitungsfunktionen hatte sich die SED vorbehalten". Außerdem habe es in den Grundeinheiten Widerspruch gegeben, und auch die fuhrende Rolle der SED sei in Frage gestellt worden.
Das ist aber nur die halbe Wahrheit. Denn außer der Frage, welche Funktionen Mitglieder von Blockparteien bekleidet haben, muß eine andere beantwortet werden: Was haben Mitglieder und Funktionäre getan, um die Diktatur der SED zu stabilisieren (wobei hier vorerst nur darauf hingewiesen sei, daß eine dritte, sich von der zweiten ableitende Frage später zu erörtern sein wird)?
Anders gefragt: Haben die LDPD-Funktionäre lediglich als Stellvertreter akklamiert, oder haben sie sich aktiv für die Ziele der SED eingesetzt? Der Schlüssel zur Antwort nach dem Charakter der Blockparteien – hier der LDPD – steckt in dem Begriff "Mitverantwortung".
Der Auftrag der LDPD bestand darin, die ideologischen Maximen der SED in der ihr zugewiesenen "Zielgruppe" – Handwerker, Teile der Intelligenz, private Gewerbetreibende – durchzusetzen. Und dies um so mehr, je stärker die Widersprüche der verschleißenden DDR-Gesellschaft aufbrachen.
So gehörte es nicht allein zu Rainer Ortlebs Pflichten, den Wehrgeist zu stärken, wo doch immer mehr junge DDR-Bürger nicht einsehen wollten, warum sie sich 18 Monate in der NVA schleifen lassen sollten, während gleichzeitig der Feind abhanden kam. Die Zahl der Wehrpflichtigen, die als Bausoldaten den Waffendienst verweigerten, wuchs jährlich.
Daher sollten auch die Liberal-Demokraten "junge Wehrpflichtige auf den Wehrdienst vorbereiten". Und deswegen unterstützte die Parteiführung auf zentraler, Bezirks- und Kreisebene beispielsweise die paramilitärische Gesellschaft für Sport und Technik (GST). Stolz bilanzierten die Vorständler in Ost-Berlin in Vorbereitung ihres XV. Parteitags, daß 3100 Parteifreunde aktive GST-Mitglieder -"Ausbilder, Übungsleiter, Trainer" – seien.
Im Oktober 1988 besuchte der LDPD-Parteiausschuß zusammen mit weiteren Spitzenfunktionären das Zentrale Ausbildungszentrum der GST "Ernst Thälmann" in Schirgiswalde, Kreis Bautzen. Eines der wesentlichen Anliegen der liberal-demokratischen Reisegesellschaft bestand darin,

"die GST bei der wichtigen und aus aktueller Sicht ideologisch besonders anspruchsvollen Aufgabe zu unterstützen, junge Wehrpflichtige auf den Wehrdienst vorzubereiten, die z. Z. ihre Lehrausbildung absolvieren und von denen viele in volkseigenen, genossenschaftlichen und privaten Dienstleistungsbetrieben tätig sind, d. h. nicht über die vormilitärische Ausbildung in den großen volkseigenen Betrieben/Kombinaten erreicht werden (...)." (ADL LDPD 31335)

Außerdem bemühte sich die Partei, in den an der Demarkationslinie zur Bundesrepublik liegenden Kreisen "Grenzhelfer" zu gewinnen, deren Aufgabe es war, Fluchtversuche schon im Vorfeld zu unterbinden. Auch sollten die "Parteifreunde Lehrer" befähigt werden, den wachsenden wehrpolitischen Zweifeln ihrer Schüler Überzeugungsarbeit entgegenzusetzen. Und Eltern von Wehrpflichtigen wurde erklärt, wie sie ihren Sprößlingen den "Ehrendienst" in der NVA schmackhaft machen könnten.
Die Wehrpolitik war ein Dauerbrenner auf allen Leitungsebenen. So zum Beispiel in einem Bericht des LDPD-Kreisvorstands Eisenach an den Zentralvorstand vom Juni 1985:

"Für die weltanschaulich-moralische Bildung und Erziehung unserer Jugend ist die besondere Situation des Grenzkreises Eisenach von großer Bedeutung. Unmittelbar an der Scheidelinie zwischen Sozialismus und Imperialismus geht auf die Bürger unseres Grenzkreises, und besonders auf die Jugendlichen, ein gezieltes ideologisches Trommelfeuer nieder, dem zu begegnen es unserer ganzen Kraft, unseres politischen Wissens und des Einsatzes aller unserer Möglichkeiten bedarf. (...)
Immer wieder taucht das Schlagwort vom 'Frieden schaffen ohne Waffen' auf dem auch von einigen Parteifreunden und einzelnen Jugendlichen nicht entschieden widersprochen wurde. Ihnen konnte bewiesen werden, daß der Frieden dem Sozialismus wesenseigen ist; wir aber keinen Pazifismus zu lassen können." (ADL LDPD 30113)

Noch im September/Oktober 1989 machte sich das Sekretariat des Zentralvorstands in Ost-Berlin Gedanken über die "Aufgaben der LDPD bei der Mitgestaltung sozialistischer Jugendpolitik". Als Ziel definierte es, Jugendliche "für die Ideale des Sozialismus zu begeistern". Die LDPD betreibe ihre Jugendpolitik "als staatstragende Partei und als Bündnispartner der Partei der Arbeiterklasse".
Ob in der Umwelt-, Gesundheits- oder Bildungspolitik – immer bewährte sich die LDPD als treuer Bündnispartner der SED. Und wenn die Parteiführung Grund zur Kritik sah, dann meistens, weil sie die eigene Rolle nicht ausreichend gewürdigt fand. So zeigten sich die Mitglieder des Politischen Ausschusses im Februar 1989 unzufrieden mit der Tatsache, daß der "Anteil der Mitglieder der LDPD bzw. der weiteren mit der SED befreundeten Parteien" beim Aufbau des Sozialismus nicht genügend gewürdigt werde in den Schulbüchern. (ADL LDPD 31715)
Daß ein großer Teil der LDPD-Mitgliedschaft zumindest parteipolitisch auf der Strecke geblieben und ein nicht zu geringer massiven Repressalien ausgesetzt gewesen war beim Aufbau des Sozialismus – darüber kein Wort des Bedauerns, in keinem Dokument.
Zwar betonten die liberal-demokratischen Funktionäre landauf, landab ihre gesamtpolitische Verantwortung, aber nirgendwo engagierten sie sich stärker als in der Wirtschaftspolitik. Denn es war ihr Hauptauftrag, die Handwerker und Gewerbetreibenden zu Höchstleistungen anzuspornen. Bei den Reparatur-, Dienst- und Versorgungsleistungen haperte es zum Teil katastrophal. Einen neuen Kotflügel für den Trabi aufzutreiben, in Stoßzeiten einen Restaurantplatz zu ergattern, einen Klempner zu finden, der binnen erträglicher Zeit ein undichtes Rohr flickte, eine Nadel zum Nähen zu kaufen erwies sich oft als Sisyphusaufgabe.
Um so wichtiger war der Auftrag der LDPD, in ihrer Klientel "Bündnisbeiträge zum Wirtschaftswachstum" zu initiieren. Kein Thema nimmt in den Berichten der Kreis- an die Bezirksvorstände und dieser an den Zentralvorstand mehr Raum ein als die Aufforderungen an Handwerker und Kleingewerbetreibende, sich zu höheren Leistungen zu verpflichten. Und stolz wurden dann die Parteifreunde hervorgehoben, die sich der realsozialistischen Misere entgegenstemmten.
Die Wohngebiets-, Ortsgruppen-, Kreis- und Bezirksvorstände wurden von ihren jeweils übergeordneten Leitungsorganen vor allem danach beurteilt, wie viele "Bündnisverpflichtungen" sie mobilisieren konnten im Rahmen des "sozialistischen Wettbewerbs". Wer vorne lag, erhielt Prämien, wer versagte, wurde zur Besserung gemahnt. Es ist angesichts dessen kein Wunder, daß etwa die Kreisvorsitzenden Wert darauflegten, gut abzuschneiden im Bezirkswettbewerb.
Einen LDPD-Kreisverband, der fast immer gut im Rennen lag, entdecken wir im thüringischen Mühlhausen. Grund genug sich mit ihm und besonders seinem Vorsitzenden näher zu beschäftigen. Sein Name ist Dr. Ulrich Fickel. Er ist heute stellvertretender Ministerpräsident in Erfurt und Vizechef der Thüringer FDP.
Glaubt man dem Handbuch des Thüringer Landtags, so wimmelt es auf seinen Bänken von Menschen ohne politische Vergangenheit. Entweder haben einstige Blockflöten in einem Akt kollektiven Vergessens alles aus ihren Biographien getilgt, was ihre Zukunftsaussichten trüben könnte. Oder es trifft zu, was im Wissenschaftsministerium Ulrich Fickels erklärt wird, nämlich daß die Landtagsverwaltung eigenhändig Eingriffe in den Lebenslauf der Abgeordneten vorgenommen und deren politisches Leben weitgehend weggekürzt hat. Im Handbuch der Mitglieder des Bundesrats ist immerhin vermerkt, daß Fickel seit 1966 Mitglied der LDPD und von 1981 bis 1989 deren Kreisvorsitzender im thüringischen Mühlhausen war. (Da meine Recherchen im Archiv der FDP-nahen Friedrich-Naumann-Stiftung sich in Windeseile bis nach Erfurt herumgesprochen hatten, entschied der Minister höchstselbst, mir diese Bundesratsvita und nicht jene aus dem Handbuch des Landesparlaments zukommen zu lassen.)
Laut Landtagshandbuch war Fickel dagegen vor 1990 nie in einer Partei gewesen. Und Redakteure der "Eisenacher Tagespost" wußten nach einem Interview im Oktober 1990 gerade mal zu berichten, daß sein politisches Engagement in der LDPD irgendwann zwischen 1963 und 1970 in Crimmitschau begonnen habe, sonst aber nichts.
Die Politkarriere des Wissenschaftsministers und stellvertretenden FDP-Landesvorsitzenden Ulrich Fickel begann tatsächlich im Jahr 1966. (ADL LDPD 31710) 15 Jahre später, im August 1981, weisen ihn Quellen als frisch gewählten LDPD-Kreisvorsitzenden in Mühlhausen aus (ADL LDPD 32721), nachdem er zuvor schon als Mitglied im Sekretariat des Kreisvorstands offenkundig beeindruckende Wirkung erzielt hatte (ADL LDPD 32767). Als Kreischef arbeitete er zur Zufriedenheit seiner übergeordneten Leitungen bis zum Herbst 1989 (ADL LDPD 30894). Als Auszeichnungen erhielt er dafür unter anderem die Ehrenurkunde und das Ehrenzeichen seiner Partei (ADL LDPD 28507a) sowie die "Wilhelm-Külz-Ehrennadel" (ADL LDPD 31042).
Noch wichtiger aber war, daß Fickel sich auf dem Sprung zur nächsten Stufe der Karriereleiter befand: 1987 (ADL LDPD 30716) und 1989 (ADL LDPD 31713) sieht die Kaderplanung des Sekretariats des Ost-Berliner Zentralvorstands den Diplom-Fachlehrer und Lehrerausbilder an der Pädagogischen Hochschule Erfurt/Mühlhausen als künftigen Vorsitzenden oder stellvertretenden Vorsitzenden des Bezirksverbands Erfurt vor, auf jeden Fall als hauptamtlichen Funktionär. Solche glänzenden realsozialistischen Zukunftsaussichten wurden nur den Treuesten der SED-Treuen gewährt – und dies auf keinen Fall ohne deren Zustimmung. Was bedeutete dagegen schon die Eintragung in das "Ehrenbuch" des Bezirksvorstands, die Fickel für seinen Kreisverband schon im Jahr 1982 tätigen durfte (ADL LDPD 32767), ganz am Anfang seiner Kreisvorsitzenden-Tätigkeit?
Noch nicht einmal zwölf Monate im Amt, konnte Ulrich Fickel, bereits zum Delegierten des 13. LDPD-Parteitags 1982 gewählt (ADL LDPD 28731), dem Bezirksvorstand in Erfurt erfreut von einem Gespräch mit dem 1. Sekretär der SED-Kreisleitung Mühlhausen berichten, daß seine "Aktion Bündnisbeiträge und ihre erzielten Ergebnisse (...) als beispielgebend für die Blockparteien bezeichnet" worden seien. Allerdings waren Fickel und Freunde zu eifrig in der Mitgliederwerbung und wurden von der SED darauf verwiesen, daß sie den Schwerpunkt auf das Handwerk legen sollten. "Aufnahmen aus anderen Bereichen (Intelligenz, auch Ärzte und Künstler) sollten nur in Ausnahmefällen und nach Rücksprache mit dem Sekretär für Agit/Prop (der SED; C. D.) erfolgen." (ADL LDPD 32742)
Die Sache wird geklärt, und der liberal-demokratische Kreisverband Mühlhausen nimmt sich für das zweite Halbjahr 1982 vor,

"den Beitrag unserer Mitglieder zur Verwirklichung der in den Beschlüssen des X. Parteitages der SED festgelegten Generallinie für die Innen- und Außenpolitik der DDR weiter zu erhöhen. Darin schlägt sich die Vertiefung der Erkenntnis nieder, daß sich mit der weiter wachsenden Führungsrolle der Arbeiterklasse und ihrer Partei in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens auch die Mitverantwortung der Bündnispartner weiter erhöht. Unsere aktive Mitverantwortung bei der weiteren Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft in der DDR ist untrennbar mit dem Kampf für den Frieden verbunden. (...) Das schließt unseren Beitrag zur sozialistischen Wehrerziehung und zur Landesverteidigung ein." (ADL LDPD 32742)

Die Bezirksdelegiertenkonferenzen 1984 und 1986 erleben ihn als Diskussionsredner in der Rolle des vorbildlichen Kreisvorsitzenden, zuletzt schon mit einem Anflug zur Selbstgefälligkeit: "Nun, wenn ich etwas salopp sagen darf, vor den Erfolg haben die Götter den Schweiß gesetzt – den Schweiß der politisch-ideologischen Arbeit."
Als der Bezirksparteitag seine Beschlüsse gefaßt hatte und sich dem Ende entgegenneigte, war Ulrich Fickel ein weiterer Auftritt vergönnt, diesmal als Vorsitzender des Wahlausschusses, als der er erfreut konstatierte: "Wir haben konkrete Ziele für die weitere Verwirklichung der Beschlüsse des XI. Parteitages der SED und für die würdige Vorbereitung unseres 14. Parteitages als gastgebender Bezirksverband beschlossen." Es versteht sich von selbst, daß Fickel auch zum Delegierten des nahenden Parteitags der Liberal-Demokraten gewählt wird. (ADL LDPD 32709)
Im Januar 1987 ergeht wieder eine Erfolgsmeldung von Mühlhausen nach Erfurt. Der Kreisverband könne "auf gute und sehr gute Ergebnisse in der Parteiarbeit zurückblicken". Die Delegiertenkonferenzen seien "ein Demonstrationsfeld für die Leistungsbereitschaft, für politisches Bewußtsein und Können unserer Parteifreunde" gewesen. Und: Der "Bündnisbeitrag zum Wirtschaftswachstum (...), der ein Beitrag zur Stärkung des Sozialismus und der Friedenssicherung ist, wird mit allen in Frage kommenden Parteifreunden in hoher Qualität abgeschlossen". "Tief ermutigend" sei auch die "gesellschaftliche Bilanz", "wir sind in unserer Republik weiter vorangekommen". (ADL LDPD 32742)
Im Jahr darauf schicken Ulrich Fickel und sein Kreissekretär eine weitere Erfolgsmeldung an ihren Bezirksvorsitzenden Reinhold Heinicke:

"Unsere Partei handelt einheitlich und geschlossen für das Wohl und die Interessen des ganzen Volkes. Sie ist gefestigt in dem Willen, all ihre Kraft für die Umsetzung der Politik des XI. Parteitags der SED einzusetzen. In mehr als 41 Jahren unserer Partei haben wir wertvolle Erfahrungen beim Aufbau des Sozialismus gesammelt, haben wir an politischer Reife gewonnen, haben jedes Kapitel des Kampfes unseres Volkes um Frieden und Fortschritt mitgeschrieben. Immer gewichtiger wird der Beitrag, den wir für die allseitige Stärkung des sozialistischen Vaterlandes leisten." (ADL LDPD 32743)

1988 vermerken Ulrich Fickel und sein Kreissekretär, daß sie "am Formen sozialistischer Persönlichkeiten, am Entwickeln und Festigen sozialistischer Grundüberzeugungen" mitwirken. Außerdem unterstützen sie "bewußt die fuhrende Rolle der Arbeiterklasse und ihrer Partei".
Im September 1989, während das Schiff "DDR" bereits Schlagseite hat, spielt auch im LDPD-Kreisverband Mühlhausen die Bordkapelle weiter. Zwar haben Fickel und sein Kreissekretär registriert, daß sich immer mehr Partreifreunde an der Basis eigene Gedanken über die Segnungen des SED-Sozialismus machen. Auch seien viele Bürger nicht mehr bereit, in die LDPD einzutreten, weil sich dadurch nichts ändere. Die Mühlhausener Blockflötenfunktionäre befürchten auch, daß "sich der politisch-ideologische Druck gegen die stabilen Länder verstärken wird" durch die '"Aufweichung1 des sozialistischen Lagers, mit den Veränderungen in Ungarn und Polen".
Aber diese Unbilden des sich abzeichnenden realsozialistischen Untergangs können Fickel und Freunde nicht irritieren:"Insgesamt kann eingeschätzt werden, daß trotz der gegenwärtig angespannten politisch-ideologischen Situation und den anstehenden Problemen in einigen Gebieten der Wirtschaft unsere Parteifreunde zu ihrem Staat stehen, die sozialistische Gesellschaft durch noch mehr eigenständige Beiträge verändern und weiterentwickeln wollen und dabei die führende Rolle der Arbeiterklasse und ihrer Partei akzeptieren." (ADL LDPD 32743)

Diese bemerkenswerte Einschätzung beruhte vermutlich auf einem tröstlichen philosophischen Leitsatz, der traditionell gute Dienste dabei geleistet hat, Ideologen mit den Unbilden der Realität zu versöhnen und den Glauben zu erhalten. Diesen Satz äußerte auch unser liberal-demokratischer Protagonist, und zwar auf einer Sitzung des Sekretariats des Bezirksvorstands Erfurt mit den Kreisvorsitzenden im Juli 1986: "Wesen und Erscheinung des Sozialismus sind unterschiedlich." So die handschriftliche Notiz eines Teilnehmers zu Ulrich Fickels Diskussionsbeitrag. Mehr hat er nicht mitgeschrieben. (ADL LDPD 32726) Durch die Widrigkeit des DDR-Alltags ließ sich ein überzeugter Realsozialist in seiner Treue nicht erschüttern.
Solche SED-Hörigkeit war das entscheidende Qualifikationskriterium von Blockparteifünktionären in den Kreisen, den Bezirken und im Zentralvorstand. In der Mitgliedschaft gab es dagegen ein breites Spektrum von Meinungen. Manchmal, aber das waren Ausnahmen, polemisierten Parteifreunde sogar gegen die SED. Andere übten mehr oder weniger behutsam Kritik an diesen oder jenen Exzessen des realen Sozialismus, besonders an den plagenden Versorgungsmängeln. Wiederum anderen schließlich kam die Bundesrepublik schließlich gar nicht so feindlich vor, wie die Funktionäre der eigenen Partei behaupteten. Von diesen und weiteren dem Propagandabild nicht entsprechenden Äußerungen zeugen Tausende von Informationsberichten in allen Blockparteien, auch in der SED.
Darauf stützen sich einstige Blockparteimitglieder, aber auch Politiker von CDU und FDP sowie dieser oder jener Historiker, wenn sie heute behaupten, es habe in den mit der SED befreundeten Parteien ein oppositionelles Potential oder wenigstens eine Distanz zu den Kommunisten gegeben.
Dahinter steckt ein seltsames DDR-Bild, quasi die Vorstellung eines allumfassenden monolithen Stalinismus, der jede Abweichung gnadenlos bekämpft hat. Aber so unmöglich es ist, der Deutschen Demokratischen Republik demokratische Züge anzudichten, so abwegig ist der Gedanke, die Appa-ratschiks in diesem eingemauerten Staat hätten nicht gewußt, daß es in weiten Teilen der Bevölkerung eine ganz andere Stimmung gab, als die Zeitungen schrieben. Und natürlich hatten die in Parteischulen getrimmten Spätstalinisten ihren Lenin gepaukt, der Anfang der zwanziger Jahre der marktwirtschaftlichen Öffnung des russischen Kriegskommunismus unter dem Signum "Neue Ökonomische Politik" die Warnung beigegeben hatte, daß das Kleinbürgertum immer auch bürgerliches Bewußtsein produziere.
Aber war es angesichts dieser in der Sozialstruktur der DDR verankerten ideologischen Dauerbedrohung für die Einheitssozialisten nicht besser, sie versuchten, Kritikanfällige aus nichtproletarischen Schichten in das politische System zu integrieren? Diese Aufgabe übertrugen sie den Blockparteien, die als Transmissionsriemen die soziale Basis der Diktatur erweiterten. Deren Vorstände auf den verschiedenen Leitungsebenen sollten das Denken der ihr zugewiesenen Klientel, vor allem der eigenen Mitglieder, überwachen und beeinflussen. Deswegen das Berichtssystem, das nach der Erhebung um den 17. Juni 1953 rasch ausgebaut worden war, damit künftige Überraschungen verhindert wurden.
Und deswegen auch die Untauglichkeit des Versuchs, abweichende Meinungen in der Mitgliedschaft als Distanz der Blockparteien gegenüber dem SED-Sozialismus zu interpretieren. Nein, bis hinunter zur Führungstroika in der Kreisorganisation – Vorsitzender, stellvertretender Vorsitzender und hauptamtlicher Kreissekretär – achteten die Kaderplaner in Abstimmung mit den Einheitssozialisten millimetergenau darauf, daß möglichst niemand in leitende Funktionen rutschte, dessen ideologische Unbedenklichkeit nicht erwiesen war und tagtäglich aufs neue demonstriert wurde. Denn schließlich hatten sie den Auftrag, die Parteimitglieder zu erziehen! Darin bestand die dritte wesentliche Aufgabe der Blockparteien.
Hier und dort gelang es SED-unsicheren Kantonisten, in Funktionen zu gelangen, ohne die nötige Glaubensfestigkeit zu besitzen. Aber deren Zeit war begrenzt bis zum ersten, manchmal zweiten unliebsamen Vorfall. Die Akten der Überprüfungskommissionen – so der Name der LDPD-Schiedskommissionen – sprechen eine klare Sprache.
Um den Anforderungen des ideologischen Klassenkampfes gewachsen zu sein, investierte die LDPD viel Kraft und Geld in die Schulungsarbeit. Nicht einmal die Parteiführung verschonte sich vom Marxismus-Leninismus-Training. Für sie standen sogar hochkarätige Dozenten der SED bereit. So rückte zum Beispiel im Januar 1984 die gesamte liberal-demokratische Prominenz aus der Zentrale und den Bezirken zur Weiterbildung an in die Bildungsstätte der Arbeiter-und-Bauern-Inspektion in Ost-Berlin-Schmöckwitzwerder-Nord. Dort instruierte sie der Rektor der Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED, Professor Otto Reinhold, über "Probleme und Schwerpunkte bei der Verwirklichung der vom X. Parteitag der SED beschlossenen ökonomischen Strategie". Professorin Gertraude Hummel vom Zentralinstitut für Sozialistische Wirtschaftsführung beim ZK der SED referierte über die "Vervollkommnung der Leitung, Planung und wirtschaftlichen Rechnungsführung". Oder Generaloberst Heinz Keßler, damals erst stellvertretender NVA-Minister, widmete sich der "sozialistischen Militärpolitik".
In den Bezirken der DDR bemühten sich Parteischulen, den liberal-demokratischen Absolventen, "theoretisch fundiert und zugleich praxisverbunden Gesetzmäßigkeiten der gesellschaftlichen Entwicklung bewußt zu machen, sozialistische Grundüberzeugungen auszuprägen sowie Leitungserfahrungen zu vermitteln". (ADL LDPD 29341)
Kreisfunktionäre wurden auf die Zentrale Parteischule der LDPD geschickt, wo ihre Lehrgangsleistungen am Ende benotet wurden. Im Fach Philosophie ging es den Dozenten um ein "tieferes Eindringen in die grundlegenden Zusammenhänge der wissenschaftlichen Weltanschauung der Arbeiterklasse". In der Politischen Ökonomie befaßten sich die Parteischüler unter anderem mit der "Bewertung aktueller Prozesse imperialistischer Wirtschaftsentwicklung", und in Geschichte wurde die Entwicklung der eigenen Partei solange verfälscht, bis sie in das aktuelle ideologische Raster paßte. (ADL LDPD 31713) Dazu später mehr.
Warum mußten LDPD-Funktionäre – nicht weniger als die Funktionäre von CDU, DBD und NDPD – dies und noch vieles andere mehr lernen? Weil sie fit sein sollten nicht nur für den politischideologischen Alltagskampf, sondern ebenso für die weltanschauliche Disziplinierung ihres politischen Umfelds, vor allem der Mitglieder, anläßlich der regelmäßig auftretenden Friktionen des realen Sozialismus. Diese wurden immer dadurch verursacht, daß im Verständnis der Aufpasser in Moskau der Sozialismus aus dem Ruder lief, entweder durch den Widerstand der Bevölkerung – Juni 1953 -oder auch dadurch, daß sich in einer kommunistischen Partei Kräfte durchsetzten, die sich den Zugang zur meist jämmerlichen Wirklichkeit nicht vollends versperrt hatten – wie 1968 in Prag.
In "Volkspolen", so der DDR-Funktionärsslang, hatte das Volk den Sozialismus immer eher als einen russischen Exportartikel angesehen. Dort faßte er nie Fuß. Die Demokratiebewegung im Nachbarland konnte sich Anfang der achtziger Jahre sogar politische und Gewerkschaftsrechte erstreiken. Fast sah es so aus, als könnten Lech Walesa und seine Gewerkschaft "Solidarität" – die in den DDR-Medien, wenn überhaupt, nur in polnischer Übersetzung vorkam – in einer friedlichen Revolution die Demokratie erkämpfen. Mitten im Warschauer Pakt, vor den Augen des KPdSU-Generalsekretärs Leonid Breschnew und des DDR-Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker und während die östliche und die westliche Militärallianz in unfreiwilliger Kooperation den letzten großen Atomrüstungsschub auslösten: sowjetische SS-20-Raketen auf der einen Seite, amerikanische Pershing 2 und Cruise Missiles auf der anderen.
Moskau und seine Verbündeten hatten zwei Ziele. Zum einen mußten alle demokratischen Keime in Polen erstickt werden, und zum anderen wollten sie um jeden Preis verhindern, daß die "polnische Krankheit" ihre bürokratischen Diktaturen infizierte. Hatten die Polen Erfolg, dann würden auch in anderen sozialistischen Staaten die Oppositionellen ermutigt, auch in der DDR, wo sich vor allem im Umfeld der Kirchen immer mehr kritische Geister immer mutiger zu Wort meldeten. Die DDR eingekeilt zwischen zwei demokratischen Staaten, die Bundesrepublik im Westen, Polen im Osten – ein Alptraum für Honecker und Genossen! Nicht einmal die drohende Aufstellung neuer amerikanischer Raketen dürfte ihnen mehr Kopfschmerzen bereit haben als Lech Walesa. Denn, das wußten die Politbürokraten genau, letztlich ging es um ihre Macht. Und daß die Machtfrage die entscheidende Frage sei, stand im marxistisch-leninistischen Katechismus auf Seite 1.
Deshalb waren auch die LDPD-Funktionäre angewiesen, in ihrer Zielgruppe abweichende Meinungen aufzuspüren und zu bekämpfen. Besonders gefordert war die Führungstroika in den Kreisen, dicht an der Parteibasis, der Bataillonsstab an der ideologischen Front. So zum Beispiel in Meißen, der sächsischen Porzellanstadt.
Die Protokolle der Sitzungen des LDPD-Kreissekretariats widerspiegeln die ideologische Prioritätenliste. Im September 1981 diskutierten die Sekretäre "Fragen der Entwicklung in Polen". Einmütig stellten sie fest,

"daß es an der Zeit sei, durch die Regierung und vor allem durch die Führung der PVAP (Polnische Vereinigte Arbeiter-Partei, die Bruderpartei der SED; C. D.) endlich geeignete Maßnahmen einzuleiten, die Ruhe und Ordnung im Land wiederherstellen. In den Gesprächen mit den Parteifreunden kam oft zum Ausdruck, daß es unter den derzeitigen Bedingungen schwer sei, zu Fragen der Unterstützung Polens durch die sozialistische Staatengemeinschaft zu argumentieren."

Unterstützung? Gemeint war die "brüderliche Hilfe" der Sowjetunion oder des Warschauer Pakts wie 1953 in der DDR, 1956 in Ungarn oder 1968 in der CSSR! Die Meißener LDPD-Sekretäre befürchteten, ihre Parteifreunde im schlimmsten Falle davon überzeugen zu sollen, daß die Panzer hätten rollen müssen auf Kosten einer weiteren Eskalation der Ost-West-Konfrontation. Denn das wäre im Fall des Falles ihre Aufgabe gewesen. Und sie hätten sich ihr gestellt, kein Zweifel ist möglich.
Im Dezember 1981 suspendierte General Edward Jaruzelski alle der "Solidarität" gegebenen Zugeständnisse, verhängte das Kriegsrecht und verfolgte und inhaftierte Vertreter der Demokratiebewegung. Die auch von den liberal-demokratischen Blockflöten sehnlichst erwünschte "Ruhe und Ordnung" war endlich wiederhergestellt.
Darüber freuten sich die Meißener Kreisvorständler wenige Tage darauf: "Die Parteifreunde äußerten sich befriedigt über die Maßnahmen der Regierung und brachten die Hoffnung zum Ausdruck, daß diese Maßnahmen den gewünschten Erfolg bringen mögen und Polen auf den Weg der sozialistischen Entwicklung zurückführen werden", sagt das Protokoll.
Im Januar 1982 diskutierten die Sekretäre nach wie vor über die "weitere Entwicklung in Polen". Noch immer war es ihnen nicht gelungen, jedes Mitglied davon zu überzeugen, daß der Militärstaatsstreich in Warschau der Weisheit letzter Schluß sei: "Dabei wird jedoch von den Mitgliedern die Frage der versuchten Einmischung der USA in die Angelegenheiten Polens sowie das Einbringen der polnischen Problematik in die verschiedenen z. Zt. laufenden Verhandlungen in Genf und Madrid nicht immer im richtigen Zusammenhang gesehen."
In der Tat, selbst so eifrigen Stalinisten im liberal-demokratischen Schafspelz fiel es schwer, den Putsch in Warschau den USA in die Schuhe zu schieben und die Proteste im Westen als ideologische Aggression des Imperialismus umzudeuten. Und das bedauerten sie. Schließlich hatten auch die Meißener Sekretäre ihre Funktionärsehre.
Auch in den folgenden Sitzungen des Jahres 1982 stand Polen auf der Tagesordnung ganz oben. Aber die aufgeregte Sorge wich der Befriedigung über die Friedhofsruhe beim Nachbarn. Die Unruhestifter waren verhaftet oder in den Untergrund gedrängt, und die Welt widmete sich wieder der Raketenrüstung.
Auch den stellvertretenden Kreisvorsitzenden der Meißener Liberal-Demokraten drängte es nun wieder zur Bekundung seines Friedenswillens, den wir bei der Beurteilung der Lage in Polen so sehr vermißt hatten. "Mit Entrüstung" verurteilte er den Bundestagsbeschluß, die amerikanischen Raketen aufzustellen. "Nur die Schaffung einer atomwaffenfreien Zone in Mitteleuropa dient der Sicherung des Friedens und der Grenze zwischen Sozialismus und Kapitalismus. Aus diesem Grunde werde ich meine ganze Kraft zur weiteren ökonomischen und politischen Stärkung unserer Republik einsetzen", verspricht der Abteilungsleiter Organisationstechnik im VEB Metallurgischer Ofenbau Meißen. Und in einer weiteren Stellungnahme sagt er zu, "meinen Beitrag zur aktiven Vorbereitung des XI. Parteitages der SED und unseres von der 10. ZV-Sitzung (Zentralvorstandssitzung; C. D.) einberufenen 14. Parteitages" zu leisten. (ADL LDPD 33239)
Dieser stellvertretende Kreisvorsitzende, der an allen zitierten Sitzungen aktiv teilgenommen hat und den es immer wieder einmal zur SED-Devotion drängte, heißt Ludwig Martin Rade. Er wurde im Juni dieses Jahres in den FDP-Bundesvorstand gewählt, ist stellvertretender Landesvorsitzender der sächsischen Liberalen und Mitglied des Dresdner Landtags. Nomenklaturkader Rade hätte wohl auch ohne Wende Karriere gemacht: Im Mai 1989 beschloß das Sekretariat des Bezirksvorstands Dresden, Ludwig Rade ab dem 1. August zum hauptamtlichen Kreissekretär in Meißen zu ernennen. Die Zeiten wurden schwierig, und bewährte Blockflöten wurden nun ganztags gebraucht an der Kampffront zwischen Sozialismus und Kapitalismus.
Was die Aufgabe von LDPD-Kreisvorständen war, regelte ein Beschluß des Politischen Ausschusses des Zentralvorstands. Er schrieb vor, daß die Kreisvorstände "alle Grundeinheiten zur konsequenten und eigenschöpferischen Umsetzung der Beschlüsse der Partei" befähigen sollten. Als Führungskader wurden genannt: der Vorsitzende, seine Stellvertreter und der Sekretär. Des weiteren legte dieser Beschluß fest:

"Die politisch-ideologische Arbeit muß in jedem Vorstand den ersten Rang einnehmen. Deshalb hat der Vorstand ständig die differenzierte Einschätzung der politisch-ideologischen Situation im Verband zu vervollkommnen. Die Mitglieder des Vorstandes verständigen sich in jeder Beratung über wichtige grundsätzliche und aktuelle politisch-ideologische Probleme oder Fragen von Mitgliedern und erarbeiten überzeugende Argumentationen zur Begründung von Beschlüssen und zu Fragen der Mitglieder." (ADL LDPD 29337)

Die Entscheidungsfindung verlief bei allen DDR-Parteien von oben nach unten. Die Vorgaben übergeordneter Gremien mußten befolgt werden, es herrschte der "demokratische Zentralismus".
Überprüfungskommissionen auf allen Leitungsebenen vom Kreis- und Stadtbezirksvorstand an aufwärts kontrollierten, ob die Weisungen der Führung befolgt wurden. Sie sollten "in erster Linie vorbeugend" wirken, "wenn es Anzeichen dafür gibt, daß Parteimitglieder Gefahr laufen, durch pflichtwidriges Verhalten das Ansehen der Partei zu schädigen, die Parteibeschlüsse zu verletzen". (ADL LDPD 31335)
Obwohl die LDPD ihre "weltanschauliche Toleranz" betonte, verpflichtete sie ihre Mitglieder und vor allem die Funktionsträger auf das Bekenntnis zum realen Sozialismus und zur führenden Rolle der "Partei der Arbeiterklasse". Sie definierte sich selbst als eine "im und für den Sozialismus wirkende demokratische Partei". Der stellvertretende LDPD-Vorsitzende Hans-Dieter Raspe sprach auf einer Sitzung des Politischen Ausschusses im Mai 1987 Klartext: "Generallinie SED gleich Generallinie LDPD", berichtet das Protokoll. (ADL LDPD 31042)
In einer Konferenz der Sektion "Wissenschaftlicher Kommunismus" der Karl-Marx-Universität Leipzig im November 1988 unter der Themenvorgabe "Politische Organisation und Bündnispolitik" referierte LDPD-Vorständler Lutz Hoyer:

"Meine Partei ist allerdings keine weltanschaulich 'offene' Partei. Toleranz in weltanschaulichen Fragen darf nicht mit weltanschaulichem 'Pluralismus' verwechselt werden. (...) Die LDPD stützt sich in ihrer ideologischen Arbeit, besonders in Schulung und Propaganda, auf die wissenschaftliche Weltanschauung der Arbeiterklasse."

Die Partei besaß kein eigenes Programm, sondern vollzog die Beschlüsse der Einheitssozialisten, denen sie vor deren Parteitagen Vorschläge unterbreiten durfte. Auch wenn sie nach außen hin den Eindruck einer größeren Weltoffenheit erweckte als die Blockkonkurrenz, so war die Liberal-Demokratische Partei Deutschlands keinesfalls eine liberale Partei. Die bundesdeutsche FDP war für sie eine Partei des Monopolkapitals, und das Adjektiv "liberal" im eigenen Parteinamen betrachteten die LDPD-Funktionäre lediglich als historische Reminiszenz ohne jede aktuelle Bedeutung.
Schon 1956, nach einem Treffen von LDPD- und FDP-Vertretern im Weimarer Hotel "Elephant", hatte Walter Scheel resignierend erklärt: "Wir konnten feststellen, daß beide Parteien keine gemeinsame politische und geistige Grundlage mehr haben." Und Erich Mende kommentierte: "Der gesamtdeutsche Dialog mit der LDP war zu Ende, bevor er selbst begann." In der Tat, das "deutschlandpo-litische Pfadfinderspiel" – so der Politologe Hans-Peter Schwarz – der Freien Demokraten in der DDR scheiterte an der Einsicht, daß bei der LDPD eine weltanschauliche Verwandtschaft nicht mehr zu erkennen war.
Liberal war die Partei einmal gewesen, mit diesem Anspruch war sie nach der Niederlage Hitlerdeutschlands 1945 angetreten. Im Glauben, angesichts der Not des Landes und seiner Bürger den Parteienzwist der Weimarer Republik nicht neu beleben zu dürfen, bildeten Liberal-Demokraten, Sozialdemokraten, Kommunisten und Christdemokraten in der Ostzone eine "Einheitsfront der antifaschistisch-demokratischen Parteien", um den Wiederaufbau unter Aufsicht der sowjetischen Besatzungsbehörden anzupacken. Die Kommunisten gaben sich zunächst als Anhänger der bürgerlichen Demokratie und garantierten sogar das Privateigentum. Als sich im April 1946 KPD und SPD zusammenschlössen, war die unter massiver sowjetischer Nachhilfe neu gegründete SED die stärkste Partei in Ostdeutschland. Unterstützt von den Besatzern, ging sie bald daran, ihren Führungsan-spruch durchzusetzen. Zunehmend initierten die Einheitssozialisten Kampagnen gegen jene Kräfte in den bürgerlichen Parteien, die sich ihren deutlicher werdenden Absichten widersetzten. Wer in den anderen Parteien offen mit westlichen Ideen sympathisierte, fand sich bald als "Bandit", "Verräter", "Spalter" oder "Agent des USA-Imperialismus" am Medienpranger wieder. Gezielt setzte die SED als "Hauptmittel" zur Bekämpfung der "reaktionären Kräfte" die "öffentliche Entlarvung" ein. (SAPMO-BArch ZPA IV 2/15/14). Wo der Psychoterror nicht ausreichte, halfen Stalins Rotarmisten. Viele LDPD- und CDU-Mitglieder verschwanden über Nacht, und manche kamen nie wieder.
In den Sitzungen des Parteienblocks wehrten SED-Generalsekretär Walter Ulbricht und Vorsitzender Otto Grotewohl Vorwürfe der anderen Parteien, deren Mitglieder Repressalien ausgesetzt waren, scheinheilig als Übergriffe untergeordneter Stellen ab. Aber je stärker sie sich fühlten, je klarer der Fahrplan in Richtung Gründung der DDR (1949) und dann hin zum "Aufbau der Grundlagen des Sozialismus" (1952) wurde, um so heftiger und offener wurden die Drohungen der Einheitssozialisten.
Der stellvertretende LDPD-Vorsitzende Hermann Kastner kommentierte bei einem Treffen mit Ulbricht und anderen Vertretern von Blockparteien im August 1948: "Bei allen, die nicht mit-marschieren, heißt es: 'Du armes Schwein, du tust mir leid, du lebst nur noch so kurze Zeit.'"
Auf der folgenden Blocksitzung sah sich der SED-Generalsekretär veranlaßt, zu diesem Thema grundlegende Ausfuhrungen zu machen:

"Als man mir vor drei Jahren die Frage stellte – damals war man noch höflicher, damals hat man nicht von 'schlachten' gesprochen, sondern man hat gesagt: Wann werden wir abgesägt? -habe ich erklärt: Abgesägt wird überhaupt niemand; aber es gibt manchmal Leute, die einfach nicht in der Lage sind, bestimmte demokratische Aufgaben mitzuerfüllen, oder die inzwischen so unter den Einfluß gegnerischer Kräfte gekommen sind, daß sie in der Tat das Gegenteil tun von dem, was sie versprochen haben. (...)
Was schafft die größten Schwierigkeiten? Die größten Schwierigkeiten sind dadurch entstanden oder können sich dadurch entwickeln, daß in der gegenwärtigen Situation der Gegner eine systematische Arbeit leistet, nicht nur in propagandistischer Hinsicht, sondern mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln, und es ihm gelungen ist, einige Leute in der Ostzone für diese Arbeit zu gewinnen. Das ist der politische Tatbestand – vielleicht wird mir auch einer sagen: der politische und vielleicht auch der militärische Tatbestand.
Ein Gegner, der offen auftritt, mit dem man sich auseinandersetzen kann, ist nicht so gefährlich. Wir haben es aber mit einem Gegner zu tun, der die Legalität von Parteien dazu benutzt und die Positionen in den Parteien dazu ausnutzt, seine eigenen Ziele zu verfolgen. Das bezieht sich sogar auf bestimmte Positionen innerhalb der SED; auch dort gibt es einige Leute, die sich eingeschlichen haben. Aber in höherem Maße sind selbstverständlich, wie sich erwiesen hat, die beiden bürgerlichen Parteien anfällig. Wir müssen also gemeinsam alles tun, um diese gegnerische Tätigkeit abzuwehren und zu liquidieren." (SAPMO-BArch NL 36/716)

Die in den Nachlässen Walter Ulbrichts und des ersten DDR-Staatspräsidenten und SED-KoVorsitzenden Wilhelm Pieck im ehemaligen Zentralen Parteiarchiv der SED (heute: Stiftung Archiv der Parteien und Massenorgansiationen der DDR im Bundesarchiv: SAPMO-BArch ZPA) aufbewahrten Protokolle der Blocksitzungen sprechen eine klare Sprache. Und sie zeigen, wie die bürgerlichen Parteien Schritt für Schritt in die Diktatur genötigt wurden, bis sie schließlich zu Transmissionsriemen der SED verkamen. Immer standen im Hintergrund Stalins Panzer und Geheimpolizisten, die Drohung vor Gericht gezerrt zu werden oder gar das Leben zu verlieren.
Die Christ- und Liberal-Demokraten glaubten an eine baldige deutsche Wiedervereinigung und hofften, ihre Parteien in der Sowjetzone bis zum diesem Zeitpunkt am Leben erhalten zu können. Auch deshalb waren sie immer wieder zu Kompromissen bereit.
Aber so verschoben sich allmählich die Grundlagen ihres Handelns. Durch ihre Berufung auf politische Gemeinsamkeiten und parteiübergreifende Prinzipien halfen sie ungewollt selbst mit, sich schließlich in den Fängen der realsozialistischen Demagogie zu verkleben. Bald waren sie bereit, das Stalinsche Vokabular zu benutzen, um ihre Befürchtungen der SED besser verständlich zu machen, und damit doch nur in die Falle getappt. Ein Auszug aus dem Protokoll einer Blocksitzung im März 1949 zeigt, wie weit die Anpassung zu diesem Zeitpunkt schon gediehen war:

Pieck: "Ihr in der LDP und in der CDU müßt euch klar sein, ihr habt Feinde in euren Reihen, die eure Arbeit zunichte machen wollen, im Auftrage der Amerikaner."
Zwischenruf Kastner: "Und habt ihr keine?"
Pieck: "Ich will Ihnen sagen: Die paar Trotzkisten, die die Amerikaner versuchen uns anzuhängen, erledigen wir so, sie sind nicht mehr in den Reihen unserer Partei, und die Schumacher-Agenten sind zum Schmerz Schumachers zum großen Teil verhaftet."
Zwischenruf Kastner: "Das soll kein Angriff sein. Ich will nur sagen, das geht uns alle an."
Pieck: "Die Sache ist bei Ihnen viel gefährlicher, weil das naturgemäße Mißtrauen sowieso da ist. Sie glauben, die SED überfahre die bürgerlichen Parteien, und mit diesem Mißtrauen machen Sie Proselyten für eine feindliche Ideologie." (SAPMO-BArch NL 36/716)

Da Repressalien und Psychoterror in ihren Augen nicht ausreichten, um das mehr als begründete Mißtrauen von CDU und LDPD im gewünschten Tempo abzubauen, verfielen die SED und die Sowjetische Militäradministration auf einen raffinierten Kniff: Im Frühjahr 1948 gründeten sie zwei Parteien, deren Aufgabe vor allem darin bestand, CDU und LDPD unter Konkurrenzdruck zu setzen. Die Demokratische Bauernpartei (DBD) wurde unter Führung des KPD-Altkaders Ernst Goldenbaum ins Leben gerufen und sollte auch die traditionelle Schwäche der Kommunisten auf dem Land kompensieren. Schon zu Weimarer Zeiten hatten die Genossen die "Bauernfrage" sträflich vernachlässigt und außerhalb der Städte kein Bein auf den Boden bekommen. Die Freunde der DBD wurden bald bei der Aufzählung der Blockparteien an erster Stelle nach den Einheitssozialisten genannt und durften sogar deren Parteischulen besuchen. Treffend taufte sie der Volksmund "grüne SED".
Die National-Demokratische Partei Deutschlands diente dem Zweck, ehemalige kleine Nazis und Soldaten für den "antifaschistisch-demokratischen Aufbau" zu gewinnen. Ihr Vorsitzender, Lothar Bolz, hatte im Krieg für das National-Komitee "Freies Deutschland" (NKFD) gearbeitet, eine Gruppe von in sowjetische Gefangenschaft geratenen deutschen Soldaten, die Propagandaeinsätze an der Front und im Radio leistete. Zuvor war der zu Beginn der Hitlerdiktatur nach Moskau emigrierte Rechtsanwalt Assistent am dortigen Marx-Engels-Lenin-Institut gewesen. Über die NDPD lästerte LDPD-Chef Gerlach später, bei ihr habe es zuerst eine Zeitung gegeben und dann die Partei.
Massiv gingen nun vor allem die National-Demokraten die beiden traditionellen bürgerlichen Parteien an. Ihre an der SED-Leine geführten Funktionäre konvertierten nicht nur mit größtem Eifer Ex-Nazis in "fortschrittliche Menschen", sondern nutzten auch jede Gelegenheit, der Konkurrenz eins auszuwischen. Einmal behaupteten sie, ein ganzer LDPD-Landesverband sei ein Hort amerikanischer Spione, ein anderes Mal denunzierten sie, welcher liberal-demokratische Referent den falschen Ton oder das falsche Wort gewählt hatte. Die SED-Abteilung "Leitende Organe der Partei und der Massenorganisationen" berichtete:

"In einer Landesblocksitzung am 10. 9. 51 in Sachsen kritisierte ein Vertreter der NDPD nach vorheriger Rücksprache mit unseren Genossen den Kreisvorsitzenden der LDP in Leipzig, Dr. von Stolzenberg, wegen einem Artikel im 'Sächsischen Tageblatt', der Ausfälle gegen die NDPD enthält und wegen eines Referates, das er an der Richterschule in Bad Schandau gehalten hat, in dem er die englische Demokratie als Vorbild hinstellte.
Eine Klärung dieser Frage erfolgte in der Landesblocksitzung am 5. 10. 51, in der Stolzenberg selbst zu den einzelnen Fragen Stellung nahm und sich auch die Vertreter der anderen Parteien und Massenorganisationen dazu äußerten. Die Angelegenheit wurde mit einer Erklärung der LDP in der Sitzung vom 17. 10. 1951 abgeschlossen, in der die Vorwürfe der NDP gegen Stolzenberg als berechtigt anerkannt und sein Verhalten verurteilt wurde. Er wurde daraufhin von seiner Funktion als Landtagsabgeordneter zurückgezogen." (SAPMO-BArch ZPA IV 2/15/14)

Ab und zu wurde der Missionsdrang der National-Demokraten sogar der SED zuviel. "Tendenzen der Überheblichkeit" monierte die Abteilung "Leitende Organe". Aber immer wieder deklamierte Bolz, gerade seine Partei habe eine "große Erziehungsaufgabe". In einer NDPD-Hauptausschußsitzung erklärte er:

"Bekanntlich glauben Pieck und Grotewohl nicht daran, daß die Menschen als Marxisten geboren werden und nur Marxisten in der SED aufgenommen sind, sondern sie müssen selbst ihre Mitglieder dazu überzeugen. Selbstverständlich glaubt Nuschke (der CDU-Vorsitzende; C. D.) nicht, daß jeder Säugling als christlicher Demokrat geboren ist. Aber keine Partei unter den fünf bestehenden hat solche Erziehungsaufgaben wie unsere." (SAPMO-BArch NDPD Bündel 1)

Je mehr die Liberal-Demokraten sich auf Kompromisse mit der SED einließen oder deren einsame Entscheidungen nachträglich tolerierten, desto mehr Mitglieder verloren sie. In der Zange zwischen SED und NDPD geriet die Partei regelrecht in eine Existenzkrise, als die Einheitssozialisten 1952 den "Aufbau der Grundlagen des Sozialismus" verordneten. Es dauerte nicht lange, bis neben der CDU auch die LDPD sich darauf einließ, ein tödlicher Kompromiß. Sie bekannten sich nun zum Sozialismus, viele ihrer Mitglieder und Funktionäre nicht einmal mit halbem Herzen, aber in der Illusion, ihre Parteien nur so zu retten.
In diesem Jahr 1952 verschärfte die SED nicht nur wirtschaftspolitisch die Gangart, sondern auch gegenüber Christ- und Liberal-Demokraten. Denn nun reklamierte sie die Arbeiter als ihr alleiniges Reservoir und befahl, daß alle anderen Parteien ihre Betriebsgruppen aufzulösen hatten. Dies und die Volkserhebung im Juni 1953 beförderte die bürgerlichen Parteien auf ihren Tiefpunkt. Waren die Führungen nach diversen Säuberungen schon weitgehend SED-treu, die Mitgliedschaft in ihrer Mehrheit war es noch nicht.
Die Erschütterungen des Juni 1953 bewirkten in der SED nicht nur scheinbare Zugeständnisse an die protestierenden Arbeiter, sondern vor allem begann sie nun, ihren Überwachungs- und Unterdrückungsapparat zügig auszubauen. Auch die Rolle, die die Einheitssozialisten den Blockparteien zugedacht hatte, wurde schärfer konturiert.
Die LDPD hatte sich vor allem auf die Mittelschichten zu konzentrieren, wobei sie allerdings zunehmend in Wettbewerb mit der NDPD geriet. Das gehörte zur Strategie des ZK Walter Ulbrichts:

"Der NDP wird zur Erleichterung ihrer Arbeit unter den städtischen Mittelschichten gestattet, sich mit deren wirtschaftlicher Lage und Entwicklung zu beschäftigen, Ausspracheabende mit diesen Kreisen durchzuführen und Vorschläge für Verordnungen usw. auf dem Gebiete des Handwerks und Einzelhandels zu machen. (...)
Die NDP soll besonders in jenen Orten und Kreisen, in denen die LDP und CDU größeren Einfluß auf die Mittelschichten ausübt, eine stärkere Aktivität entwickeln."Dabei wurde die Partei angewiesen, keinesfalls mehr Mitglieder aufzunehmen, als sie verlor. (SAPMO-BArch ZPA IV 2/15/14)

Auch das Ministerium für Staatssicherheit lieferte jetzt bessere Informationen über "fortschrittsfeindliche" Umtriebe. Gezielt setzte die SED zudem verdeckte Mitarbeiter ein in den anderen Parteien, um sie weiter in die gewünschte Richtung zu treiben. Stolz meldete die ZK-Abteilung "Leitende Organe":

"Bei der NDP undLDP erhalten wir zentral Informationen. Eine Einflußnahme auf die Tätigkeit ihrer zentralen Leitungen ist gegeben. Dabei arbeiten wir bei beiden Parteien mit offiziellen und inoffiziellen Vertretern." (SAPMO-BArch ZPAIV 2/15/14)

Bis zum Ende der DDR sollte die Feindschaft zwischen LDPD und NDPD währen, sie entbrannte immer wieder zwischen den Leitungen, aber auch an der Parteibasis war man sich meist nicht grün. Manfred Gerlach betrachtete Bolz-Nachfolger Heinrich Homann als "Gegenspieler", wie er in seiner Autobiographie schreibt. Diese Konkurrenz belebte das Geschäft der SED jahrzehntelang.
Als der von Mitgliedern schon weitgehend entblößte national-demokratische Funktionärsapparat samt reichem Geld- und Immobilienvermögen nach einigem Hin und Her dann doch über den Umsteigebahnhof "Bund Freier Demokraten" in den Armen der FDP landete, fiel es vielen einstigen Liberal-Demokraten nicht leicht, die neuen Parteifreunde zu begrüßen, denen die Volkskammerwahl im März 1990 gerade mal 0,38 Prozent der Stimmen eingebracht hatte. Viele wollten zunächst mit jenen Funktionären, die ihre SED-Unterwürfigkeit nicht laut genug hatten herausposaunen können, nichts zu tun haben. Ihnen wäre es recht gewesen, wenn DSU-Mann Peter-Michael Diestel – heute das Enfant terrible der brandenburgischen CDU – Erfolg gehabt hätte bei seinem Versuch, die National-Demokraten mit CSU-Geld einzukaufen. (SAPMO-BArch NDPD Bündel 171)
Die Querelen von einst haben Folgen bis heute. Sie verhinderten zum Beispiel, daß der "starke Mann" der FDP Sachsen-Anhalts und ehemalige stellvertretende Chef des BFD Landesvorsitzender werden konnte. Aber immerhin hat es Wolfgang Rauls zum Vize-Ministerpräsidenten in Magdeburg gebracht und ist außerdem Vorsitzender des Bundesfachausschusses Umwelt der FDP.
In seiner Vita vermerkt er über die DDR-Vergangenheit: Er habe von 1974 bis 1979 Staats- und Rechtswissenschaften studiert und währenddessen hauptamtlich für die NDPD gearbeitet. 1979 bis 1987 sei er Stadtbezirksrat für Kultur in Magdeburg gewesen. Danach habe er bis zur Wende wieder als hauptamtlicher Funktionär für seine Partei gewirkt, "zuletzt als Kreissekretär". Im Februar 1990 sei er Vorsitzender der NDPD geworden.
"Ich habe eine typische DDR-Biographie und stehe auch dazu", erklärte Rauls im Januar 1993 der "Mitteldeutschen Zeitung", und das "Wahren solcher Werte wie Toleranz, Humanismus und Menschenwürde war in den unteren Gliederungen meiner damaligen Partei, der NDPD, durchaus möglich." Und dann erregte er sich über jene Leute, die "im Brustton tiefster Überzeugung erklären, sie wären schon immer dagegen gewesen. Warum machen die das?"
Das klingt gut, der Mann steht zu seiner Vergangenheit, denkt der Leser. Und merkt nicht, daß er einem autobiographischen Scharlatan aufgesessen ist. Denn Wolfgang Rauls besitzt die Fähigkeit, kein falsches Wort zu sagen und doch zu lügen. Der Hobbyfußballer aus Magdeburg steht in dieser Disziplin seinem Parteivize Rainer Ortleb in nichts nach. Auch die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" (22. Juni 1991) fiel auf ihn herein, als sie schrieb, Rauls1 Karriere sei die "längste Zeit auf einem Seitengleis" verlaufen. Nichts unwahrer als das.
Die einzige Vorwendefunktion, die er angibt, ist die eines Kreissekretärs, die er "zuletzt" bekleidet haben will. Die Abteilung Personalpolitik des Sekretariats des Hauptausschusses – so nannte die NDPD ihren Parteivorstand – war da besser informiert. Im März 1989 notiert sie:

"Parteifreund Rauls ist ein in der Parteiarbeit bewährter und politisch qualifizierter Mitarbeiter, der seine Fähigkeiten in allen übertragenen Aufgaben bewiesen hat. Er kennt die Verhältnisse und Probleme der Parteiarbeit in der Stadt Magdeburg aus seiner bisherigen Tätigkeit sehr genau. Die Rückstände in der Arbeit des Kreisverbandes machen den Einsatz eines so bewährten Kaders notwendig, obwohl gegenwärtig die Lücke im Sekretariat des Bezirksvorstandes noch nicht mit einem gleichwertigen Mitarbeiter geschlossen werden kann."

Die Lücke konnte nie geschlossen werden, und Rauls blieb zusätzlich zur Kreisfunktion, was er war: Sekretär für Agitation und Propaganda des NDPD-Bezirksvorstands Magdeburg. In diese Funktion war er 1987 gewählt worden. (SAPMO-BArch NDPD Bündel 106) Seine wichtigste Aufgabe war, darauf zu achten, daß die Parteifreunde auf dem ideologischen Kurs der SED blieben. Er war daher auch für die innerparteiliche Schulung zuständig. Wie gesagt, "zuletzt als Kreissekretär"!
Tatsächlich wußte Agitpropsekretär Rauls genauer als die meisten anderen, wo es in der Parteiarbeit der Magdeburger National-Demokraten hakte. Denn er wirkte in den achtziger Jahren nicht nur als hauptamtliches Ratsmitglied im Stadtbezirk Magdeburg-Mitte für Kultur, sondern vor allem als Angehöriger der Bezirksparteikontrollkommission (BPKK) der NDPD, die die Partei von feindlichen Einflüssen sauberhalten sollte. Der spätere Aufstieg zum führenden Agitator und Propagandisten der NDPD in seiner Heimatstadt ist daher nur ein folgerichtiger Schritt in der Karriereleiter.
Wer nicht fest zum Sozialismus Honeckers stand, hatte in der NDPD schlechte Karten. Hier seien nur zwei typische Fälle genannt: zuerst der des Parteifreundes Peter Meier (Name geändert, C. D.), 1981 Vorsitzender einer Grundeinheit im Kreis Wernigerode. Er hatte in diesem Jahr offensichtlich keine große Lust, an den "Volkswahlen" teilzunehmen, das war sein Fehler. Es gab in der DDR zwar keine Wahlpflicht, aber eigens dazu abgestellte Wahlhelfer aus Parteien und Massenorganisationen trommelten an allen Türen, um möglichst schon zur Mittagszeit Vollzug melden zu können – den "sozialistische Wettbewerb" gab's auch beim Stimmensammeln. Parteifreund Meier hatte sich wohl verspätet, und daher beschloß die Magdeburger BPKK, dem Zögerlichen ins Gewissen zu reden:

"Dieses Gespräch ist erforderlich, da Pfr. Meier durch sein Verhalten am Tag der Volkswahlen im Mai dieses Jahres das Ansehen des Ortsverbandes und damit das der Partei gröblichst schädigte. Er mußte durch die Pfrin. Haube*, Ratsmitglied (...), und einen Freund der SED aufgefordert werden, seiner Wahlpflicht nachzukommen." (SAPMO-BArch NDPD Bündel 1187)

Gravierender war die Sache mit dem Musiker Karl Hoch (Name geändert, C. D.) aus dem NDPD-Kreisverband Genthin. Im September 1981 fühlte sich die BPKK verpflichtet, das Verfahren gegen diesen Parteifreund endlich abzuschließen, nachdem in einigen Gesprächen versucht worden war, Hoch auf Linie zu bringen. Der Kommission lag eine Aktennotiz des Genthiner Kreissekretärs vor, der zu entnehmen war, daß Hoch "eine sehr verworrene Position zum Sozialismus im allgemeinen und zur DDR im besonderen hat". Alles, was er in der NDPD höre, sei

"Verklapserei. Das, was in den Parteiveranstaltungen gesagt würde, wäre Schönfärberei und Geschwafel, nur Gewäsch. Die Verdummung in einer staatstragenden Partei, die wir ja seien, mache er nicht mehr mit. (...) Alles zusammengefaßt, seine Ablehung gegen die internationalistische Solidarität, seine angeblichen Erfahrungen mit der Gewerkschaftsbewegung in der VR Polen, des angeblichen Rennens des realen Sozialismus in der Sowjetunion und in der DDR, wo es seit 60 bzw. 30 Jahren damit nicht vorangehe, ist er zu der Auffassung gelangt, das wäre nicht der Sozialismus, wie er ihn sich vorstellt."

Der Genthiner Kreissekretär glaubte nicht mehr daran, Hoch umstimmen zu können. Also schlössen Rauls und die anderen Parteikontrolleure den mit der "polnischen Krankheit" infizierten Musiker aus und wiesen an, auch Hochs Arbeitsstelle darüber zu unterrichten. (SAPMO-BArch NDPD Bündel 1187)
"Toleranz, Humanismus und Menschenwürde"!
Wie sein späterer Parteifreund Ortleb sorgte auch Rauls sich um die bedrohlichen Wirkungen der Entspannungspolitik auf das realsozialistische Feindbild. Das BPKK-Protokoll vom 14. September 1983 hält fest, daß er sich der ideologischen Herausforderung durch die Madrider KSZE-Nachfolgekonferenz stellte und die konterrevolutionären Menschenrechtsforderungen der Imperialisten in ihrer wahren Bedeutung erkannte:

"Im weiteren Verlauf der Beratung machte Pfd. Rauls auf den Inhalt des Abschlußdokuments des Madrider Treffens aufmerksam. Es könnten sich daraus eventuell Erscheinungen entwickeln, die der politischen Wachsamkeit der Partei bedürfen.“

Ist es da ein Wunder, daß die Bezirksparteikontrollkommission Magdeburg auch ihrem Mitglied Rauls bescheinigte, "parteilich, offensiv und helfend" geurteilt zu haben? Und: "Alle Entscheidungen wurden einstimmig getroffen." (SAPMO-BArch NDPD Bündel 1187)
Der Diplom-Staatswissenschaftler Rauls, der schon 1974 einen Halbjahreslehrgang an der Zentralen Parteischule der NDPD absolviert hatte, war unter anderem "Aktivist der sozialistischen Arbeit", außerdem trug er die "Ehrennadel der Nationalen Front" in Gold und in Silber sowie das "Ehrenzeichen" der NDPD. Sein Aufstieg zum Bezirkssekretär 1987 aber war der größte Lohn.
Im August 1988 befaßte sich das Bezirkssekretariat mit dem 25. Jahrestag des Mauerbaus und meldete nach Ost-Berlin an die Zentrale: "Der Jahrestag der Sicherung unserer Staatsgrenze (...) war vielen Parteifreunden Veranlassung, sich der Ziele der aggressivsten Kreise des Monopolkapitals gegenüber der DDR und dem Sozialismus zu erinnern (...)." (SAPMO-BArch NDPD Bündel 106)
Eine begrenzte Nachdenklichkeit erfaßte den Agitpropmann erst, als die Bürger der DDR scharenweise davonzulaufen begannen. An alter Wirkungsstätte, nämlich als Gastreferent der BPKK-Sitzung am 20. September 1989, sagte Bezirkssekretär Rauls laut Protokoll, dass

"in den Parteiveranstaltungen in der Diskussion die illegale Ausreise von Bürgern der DDR in die BRD einen breiten Raum einnimmt. Dabei tritt immer wieder die Frage auf, was haben wir in unserer politisch-ideologischen und kommunalpolitischen Arbeit falsch gemacht. Dabei müssen die Wirkungen der BRD-Medienkampagne beachtet werden." (SAPMO-BArch NDPD Bündel 1187)

Aber wahrscheinlich weiß Wolfgang Rauls heute gar nicht mehr, was er noch vor wenigen Jahren gesagt hat. Genausowenig wie all die anderen Blockflöten, die so tun, als wären sie geborene Westliberale.
Manchmal wächst zusammen, was nicht zusammengehört.
Spiegel, Nr. 34/1993 (dort gekürzt)

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